Kurzbiographie

Name:
Estelle Dzienciol, geborene Bergmann in Australien geboren

Vater:
Leopold Bergmann, geboren 1921 in der Uhlandstraße im Frankfurter Ostend

Schule:
jüdische Volksschule im Röderbergweg

Emigration:
1937 nach Australien ( alleine )

Tante, Schwester des Vaters: Nora Frankel, geb. Bergmann, geboren 1926, emigrierte mit Kindertransport 1938 nach England; ging nach dem Krieg zu ihrem Bruder nach Australien

Großeltern:
Inhaber eines koscheren Restaurants in Frankfurt; beide wurden deportiert und ermordet


Quellen:

  • Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt (PJLF): Korrespondenz und Gespräch mit Ralph Penglis und Estelle Dzenicol
  • PJLF: Mitschnitt des Unterrichtsgesprächs im Gagern-Gymnasium
  • Vertriebene zu Gast. Flüchtlinge und deren Kinder besuchen Frankfurt, FAZ vom 01.06.2012

Fotos und Dokumente:

  • Estelle Dzenicol und Ralph Penglis
  • Heinrich von Gagern-Gymnasium, Iris Hofmann, Angelika Rieber

Text:
Marianne Karpf

Estelle Dzienciol

Australien trifft Deutschland

Von Marianne Karpf

Estelle Dzienciol, geborene Bergmann.
Die Eltern Bergmann, die mit ihren beiden Kindern Leopold und Nora in der Uhlandstraße im Frankfurter Ostend wohnten, trafen eine Entscheidung, die ihnen das Herz zerriss, ihren Kindern aber das Leben rettete. Leopold hatte Glück, 1937 mit 16 Jahren nach Australien ausreisen zu können und seine Schwester Nora ging 1938 mit 12 Jahren mit einem der Kindertransporte nach England. Eltern und Kinder sahen sich nie wieder. Die Eltern wurden deportiert und ermordet. Leopold kam gesund in Australien an und fand dort eine neue Heimat. Estelle ist seine Tochter. Leopolds Schwester Nora wanderte nach dem Krieg zu ihrem Bruder nach Australien aus.

Gewonnenes Leben. Estelle Dzieniciol, geborene Bergmann

Frau Dzienciol ist in Australien geboren, weil ihr Vater Leopold Bergmann, geboren 1921 in Frankfurt in der Uhlandstraße, 1937 in einer Lotterie gewonnen hat. Die jüdische Gemeinde in Brisbane/Australien hatte Geld gesammelt und wollte einer jüdischen Schülerin und einem jüdischen Schüler aus Deutschland die Flucht ermöglichen und sie bei sich aufnehmen. Estelles Vater, der die Israelitische Volksschule im Röderbergweg besuchte, zog das Los zusammen mit einer Schülerin der Mädchenschule.

Die beiden haben die Reise zusammen angetreten, doch das Mädchen starb auf der Überfahrt an einer Lungenentzündung. Schon die Ausreise aus Deutschland gestaltete sich dramatisch. Die Gestapo verlangte von den Schaffnern, ihr zu sagen, welche der Reisenden jüdisch waren. Diese wurden aus dem Zug gezerrt. Als der Schaffner zu den beiden Jugendlichen kam, verriet er sie nicht. Nachdem der Zug die Grenze nach Holland überquert hatte, bedankte sich Estelles Vater bei dem Schaffner und bat ihn um seine Adresse, um ihm später noch einmal schriftlich danken zu können. In Brisbane angekommen, Leopold Bergmann war 16 Jahre alt, erhielt er von der Gemeinde eine Unterkunft und einen Job.

Die Schwester von Estelles Vater, Nora Frankel, geb. Bergmann, überlebte als Kindertransportkind in England. Frau Dzienciol zitierte aus den Lebenserinnerungen mit dem Titel ‚I came alone‘, die ihre Tante verfasst hatte, über deren Erlebnisse in ihrer Schule, über das Novemberpogrom 1938, ihren Abschied von Frankfurt und ihre Reise im Kindertransport zwei Monate vor Beginn des Krieges. Nora Bergmann war damals 12 Jahre alt. Ende der 40er Jahre holte Leopold Bergmann seine Schwester nach Australien.
Hier der Text, den Frau Dzienciol vorgelesen hat, in deutscher Übersetzung:

„Ich kam alleine“

Meine Schule, die Israelitische Volksschule, war 10 Minuten Fußweg von zuhause (Uhlandstraße) entfernt. In meiner Klasse waren 35 Schülerinnen, aber bald schrumpfte die Zahl. Von 1938 an nahmen wir wahr, dass bald jede Woche eine Schülerin die Schule verließ. Als die Lage immer schlechter wurde, verließen immer mehr Lehrer die Schule und Klassen wurden zusammengelegt. Auf unserem Heimweg von der Schule pflegten uns Nazi-Kinder aufzulauern und mit Steinen nach uns zu werfen. Einmal, das werde ich nie vergessen, warteten die Nazi-Kinder in der Nähe der Schule auf uns, wir bogen um die Ecke, sie hatten einen Eimer mit Salzwasser dabei und schütteten ihn uns in das Gesicht, fast hätten sie uns geblendet.

Am Tag der Kristallnacht schickte mich meine Mutter alleine zum Einkaufen. Auf dem Rückweg sah ich eine Menge Leute schreiend, lachend und johlend vor der Synagoge stehen. Die Synagoge brannte. Sie warfen die Thorarollen in die Luft und hatten ihren Spaß dabei, schlugen Fensterscheiben ein und zerstörten alles, was sie in die Finger bekamen. Ich musste da durchgehen und war bestürzt. Ich kam weinend nach Hause. Nachdem ich eine Zeit lang zuhause war, hörten wir, wie Glas zu Bruch ging und Leute riefen: „Juden, haut ab!“ Meine Mutter und ich hatten große Angst, und wir versteckten uns in einer Ecke unter dem Tisch. Im Erdgeschoss wohnten Juden, deren gesamte Einrichtung kaputt geschlagen wurde. Als es am nächsten Morgen hell wurde, gingen wir hinunter und sahen, dass alle Fenster eingeschlagen waren, alles durchwühlt, alle Möbel zerstört waren, Menschen schrien und wussten nicht, was vor sich ging. Nach der Kristallnacht wurde die (allgemeine) Jüdische Schule mit der Mädchenschule zusammengelegt. Die Klassen in der Hirsch (gemeint ist die Samson-Raphael-Hirsch Schule) wurden immer kleiner, weil viele Schüler mit dem Kindertransport nach England gingen. 1939 spitzte sich die Lage so zu, so dass niemand mehr wagte, nachts auf die Straße zu gehen.

Als ich auf den Kindertransport ging, zwei Monate bevor der Weltkrieg ausbrach, brachte mich meine Mutter zum Frankfurter Hauptbahnhof. Ich sehe immer noch, wie ich dastand und meiner lieben Mutter auf Wiedersehen sagte. Dann kam die letzte Überprüfung unserer Dokumente durch die SS, ein Blick in ihre Gesichter ließ keinen Zweifel, was sie am liebsten mit uns gemacht hätten. Als wir die holländische Grenze passiert hatten, sagte der freundlich lachende Schaffner, dass uns jetzt nichts mehr geschehen würde.“
Nora Bergmann sah ihre Mutter und ihren Vater nie wieder.

Die Großeltern von Estelle Dzienciol wurden deportiert und ermordet. Frau Dzienciol fand ihre Namen an der Gedenkmauer am alten Jüdischen Friedhof in der Battonstraße.
Das Haus, in dem ihr Vater in der Uhlandstraße 38 gelebt hatte, steht heute noch.
Estelle Dzienciol war hocherfreut, von den Besitzern der Wohnung hereingebeten zu werden.
Estelle Dzienciol berichtete in dem Unterrichtsgespräch, dass sie mit gemischten Gefühlen nach Frankfurt gekommen sei, aber jetzt ein gutes Gefühl Deutschland und den Deutschen gegenüber habe, weil sie diese als freundlich und aufrichtig erlebt habe. Sie schätze die Einladung der Stadt Frankfurt sehr und hoffe, dass ihre Kinder ebenfalls an einem solchen Programm teilnehmen können.

Viele Fragen und ein koscherer Imbiss: Schulbesuch im Gagern-Gymnasium

Das Gespräch im Gagern-Gymnasium fand in einer 12. Klasse statt, aber Schülerinnen und Schüler einer 9. Klasse waren so interessiert, dass sie auch teilnehmen durften. In dem Unterrichtsgespräch hatten zunächst die Zeitzeugen das Wort. Herr Penglis hatte das Familienstammbuch mitgebracht und eine Impfbescheinigung, die er herum reichte. Die Schüler hatten gemeinsam mit ihrer Lehrerin vorher Fragen entwickelt, die nun halfen, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Die Lebensumstände während des Zweiten Weltkrieges in Australien waren wohl schwierig. Max Dzienciol erzählte sehr lebendig, sein Vater sei als polnischer Jude ein ‚friendly alien‘ und seine Mutter, eine deutsche Jüdin, eine ‚enemy alien‘ gewesen. Dabei spielte es offensichtlich keine Rolle, dass sie als Juden aus Deutschland emigriert waren. Ralph erzählte, seine Mutter habe rassistische Anwürfe im Bus erlebt, weil sie Englisch mit deutschem Akzent sprach, und dass für ihn mit deutscher Herkunft das Leben in der Schule in dieser Zeit nicht leicht gewesen sei. Eine Schülerin wollte wissen, ob es Auswirkungen der Vergangenheit auf ihr Leben geben würde. Diese Frage wurde mit einem: „Ja, gewiss“, beantwortet.
In Australien gibt es einen Shoa-Gedenktag. Viele junge aus­tralische Juden gehen nach dem Abitur nach Israel. Von dort werden Fahrten nach Auschwitz organisiert, zum Beispiel zu dem „March of The Living“. Max Dzienciol sagte, es gebe in der zweiten Generation in Australien eine starke Verbundenheit mit Europa. Die Frage, welches Land die Eltern als ihre Heimat ansahen, haben die Gäste ihren Eltern nie gestellt, aber sie wissen, dass die Eltern froh waren, in Australien in Sicherheit zu sein.

Zum Schluss fragte Jeanette die Schüler, ob sie am Abend ihren Familien von dem Unterrichtsgespräch erzählen würden.
Anschließend wurden alle Gäste im Lehrerzimmer vom Direktor begrüßt und mit einem koscheren Imbiss bewirtet. Es wurde mit koscherem Sekt angestoßen und es ergaben sich informelle Gespräche. Von den Besuchern wurde ausdrücklich später die große Gastfreundschaft des Gagern-Gymnasiums gewürdigt, insbesondere die koscheren Speisen und Getränke.