KURZBIOGRAPHIE
Familie Hermann und Amalie Adler
Besuchsprogramm 2023 Beatrix Traub-Werner und Martin Kantor
Besuchsprogramm 1997 Margot Weisz
Hermann Adler, 1879 in Urspringen – 1961 in Argentinien
Amalie (Mally) Adler, geb. Hess, 1895 in Frankfurt – 1992 in Argentinien
Firma von Hermann Adler: Textilhandlung H & F Adler (1912–1937)
Taunusstraße 52–60, zuletzt Boyenstraße 8–10, heute Heilbronnerstraße
Kinder des Ehepaars:
Ruth, 1921 in Frankfurt – 1969 in Argentinien, verh. Kantor
Besuchte Schulen: Viktoriaschule (heute Bettinaschule), Philanthropin
Margot, 1923 in Frankfurt – 1998 in Argentinien, verh. Weisz
Besuchte Schulen, Varrentrapp-Schule, Philanthropin
Wohnadressen:
Kurfürstenstraße 55, später Westendstraße 82
Emigration 1939 über Großbritannien und Bolivien nach Argentinien
*Kinder von Ruth Kantor: Beatrix (1948) und Martin (1951)
Quellen:
- * Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
- * Adressbücher der Stadt Frankfurt
- * Arolsen Archives
- * Geschichte der Degussa
- * Informationen, private Dokumente und Fotos der Familie
- * Interview und Artikel von Rosemarie Papadopoulos-Killius, 1997
- * Text Stolpersteinverlegung 2023
- * Power-Point-Präsentation und Gespräche von Beatrix Traub-Werner und Martin Kantor im Friedrich-Dessauer-Gymnasium 2023
- * Fotos vom Besuch 2023: Angelika Rieber
- * Informationen und Dokumente von Dr. Leonard Scherg
- * Leonhard Scherg/Martin Harth: Juden im Landkreis Marktheidenfeld, Hrsg: Historischer Verein Marktheidenfeld und Umgebung, 13/1993
- * www.synagoge-urspringen.de
- * www.alemannia-judaica.de
Recherchen und Text: Angelika Rieber
Erschienen: September 2025
Familie Adler aus Urspringen
Charlotte – eine Reise um die Welt
von Angelika Rieber
Auf abenteuerlichen Wegen floh der Textilfabrikant Hermann Adler 1939 zusammen mit seiner Frau Amalie und den Töchtern Ruth und Margot über Großbritannien, Chile und Bolivien nach Argentinien. Dort lebte bereits die Familie Straus (Link), mit denen die Adlers eng verbunden waren. Margot Weisz besuchte 1997 auf Einladung der Stadt Frankfurt ihre Geburtsstadt. 2023 nahmen die Kinder von Ruth Kantor, Beatrix und Martin, am Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt teil.
Von Urspringen nach Frankfurt
Die Vorfahren des Textilfabrikanten Hermann Adler lebten seit dem 17. Jahrhundert in Urspringen. Dort wurde Hermann Adler 1879 geboren, als eines von acht Kindern des Viehhändlers Isaak Adler und seiner Ehefrau Marianne, geb. Fränkel. Die Familie wohnte in der Schlossstraße.
Urspringen ist ein kleiner Ort in Franken mit heute etwa 1 500 Einwohnern. Im 19. Jahrhundert war dort der Anteil der jüdischen Bewohner vergleichsweise hoch, zeitweise über 20%. Seit etwa 1700 gab es dort eine Synagoge, 1803 wurde eine neue Synagoge eingeweiht, die am 10. November 1938 im Rahmen des Novemberpogroms geschändet wurde. Heute ist sie ein Gedenk- und Erinnerungsort.
Häufig vertretene Berufe in dem kleinen Ort in Franken waren Viehhändler, einer von ihnen war Hermanns Vater Isaak Adler, Metzger und Händler mit Textilien. Wie in vielen Landgemeinden ging die Zahl der jüdischen Bewohner in Urspringen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts stark zurück. Viele von ihnen, so auch Hermann Adler, seinen Bruder Fritz und seine Schwester Hilde, zog es in die Metropolen, wo sie sich größere Entfaltungsmöglichkeiten erhofften. Dies hatte Folgen für die jüdische Infrastruktur des Ortes: Aufgrund der wachsenden Zahl der Gemeindemitglieder zu Beginn des 19. Jahrhunderts war 1829/30 eine jüdische Schule in Urspringen eingerichtet worden; 1917 konnte die Schulstelle jedoch nicht mehr besetzt werden, weshalb die Schule aufgelöst wurde.
1942 lebten noch 42 jüdische Bewohner in Urspringen. Sie wurden Ende April 1942 über Würzburg nach Izbica deportiert und ermordet.
H. & F. ADLER – Kleiderfabrik OHG in Frankfurt am Main
Ab 1902 war Hermann Adler in Frankfurt am Main gemeldet. Nach dem Besuch einer weiterführenden Schule in Würzburg war der junge Franke in die Mainmetropole gekommen, wo er bei der Firma Fränkel und Süsser zunächst als Volontär und später als Kaufmann arbeitete.
Zehn Jahre später gründete er zusammen mit seinem jüngeren Bruder Fritz ein bald erfolgreiches Unternehmen. Die Firma der beiden Brüder stellte Berufsbekleidung, Sport- und Herrenbekleidung her. Es handelte sich um eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts. Anfangs waren die Firmenbesitzer Kunden bei der Pfälzischen Bank, nach deren Zusammenbruch 1922 bei der Deutschen Bank.
Sakkos wurden im Auftrag der Firma von Schneidern in Heimarbeit hergestellt, der Rest wurde im Betrieb selbst produziert. Zunächst mieteten die beiden Brüder eine Etage in einem Geschäftshaus in der Taunusstraße 52-60, später kauften sie ein zweistöckiges Gebäude in der Boyenstraße 8-10, heute Heilbronner Straße, und errichteten dort ein sechsstöckiges Geschäftsgebäude. Außerdem gab es noch ein Zweigwerk in Rossdorf bei Darmstadt. Hermann Adler war mit zwei Dritteln an dem Betrieb beteiligt, sein Bruder Fritz mit einem Drittel, den Gewinn erhielten die beiden Brüder zu gleichen Teilen.
Etliche Mitglieder der Familie Adler aus Urspringen arbeiteten in dem Familienunternehmen. Seit 1921 lebte Hermanns Nichte Irma Mannheimer in Frankfurt und war zunächst als kaufmännischer Lehrling und ab 1933 mit Prokura in dem Unternehmen beschäftigt. Irma, 1903 in Bütthard geboren, war die Tochter von Hermanns ältester Schwester Flora.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich das Unternehmen zum bedeutendsten und größten Unternehmen auf dem Gebiete der Berufs- und Sportbekleidung in Deutschland entwickelt. Der frühere Prokurist berichtete 1957, dass zu dem Betriebe 150 bis 200 elektrisch betriebenen Näh- und Zuschneidemaschinen gehörten und die Firma 140 Arbeitskräfte beschäftigte. Auch die Weltwirtschaftskrise hatten die beiden Unternehmer wohl halbwegs unbeschadet überstanden.
Der erfolgreiche Geschäftsmann Hermann Adler gehörte der Loge B´nai B´rith an, einer jüdischen Organisation, die sich für die Förderung von Toleranz, Humanität und Wohlfahrt engagiert.
Die Familie: Hermann und Amalie Adler, Ruth und Margot
Im Ersten Weltkrieg diente Hermann Adler als Soldat und wurde für seine Verdienste mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, worauf er sehr stolz war. Auch der Textilbetrieb profitierte vom Krieg, denn Uniformen für die Armee waren gefragt. Ein Jahr nach Kriegsende, am 30. September 1919, heiratete Hermann Adler die Frankfurterin Amalie (Mally) Hess.
Das Ehepaar hatte zwei Kinder. Die Tochter Ruth wurde 1921 geboren, die Tochter Margot zwei Jahre später. Die Familie wohnte zunächst in der Kurfürstenstraße 55 und ab Mitte der 20er Jahre in der Westendstraße 82. Auch wenn die Adlers nicht sonderlich religiös lebten, spielten die jüdischen Traditionen wie die hohen Feiertage dennoch eine wichtige Rolle. Die Familie gehörte der liberalen Westendsynagoge an.
Das friedliche und geordnete Leben der Familie Adler fand mit dem Beginn des Nationalsozialismus sein Ende.
„Die bisherige OHG ist aufgelöst“
Die antijüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten wirkten sich unmittelbar auf die Firma von Hermann und Fritz Adler aus. So mussten sie gravierende Umsatzrückgänge erleben. Dennoch erhielten die beiden Brüder noch 1934 einen Kredit der Deutschen Bank zum Ausbau ihrer Firma. Nach der Entlassung des jüdischen Direktors der Bank sahen sich die beiden Brüder jedoch zunehmendem Druck ausgesetzt, ihre Firma zu verkaufen. Verbunden waren die neuen Maßnahmen mit der Drohung, den gewährten Kredit zu sperren. Zusätzlich gab es „enorme Schwierigkeiten mit den Arbeitern“, so Hermann Adler in einer Stellungnahme 1955. Vermutlich gab es, wie auch in zahlreichen anderen Firmen, von der DAF (Deutsche Arbeitsfront) gesteuerten Druck auf die jüdischen Besitzer, den Betrieb aufzugeben. So blieb es Hermann und Fritz Adler nur noch übrig, den Betrieb am 14. Juli 1937 gewerbesteuerlich abzumelden und zum 20. August 1937 zu liquidieren.
Die in dem Familienunternehmen angestellte Nichte Irma Mannheimer fand vorübergehend eine neue Anstellung bei der Firma Oestrich & Co in der Kaiserstraße, bis zu deren Liquidation Ende 1938.
Das Haus in der Boyenstraße, in dem die Firma untergebracht war, wurde an die Degussa, die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt, verkauft. Im Rahmen der Autarkiebestrebungen des NS-Regimes baute die Firma ihr Edelmetall- und Chemiegeschäft weiter aus; die damit einhergehende Vergrößerung des Firmenareals der Degussa war eng mit der „Arisierung“ jüdischen Besitzes verbunden, wie hier im Falle der Textilfirma Adler.
Die Aufgabe des von ihm aufgebauten Unternehmens, dem sein ganzer Stolz galt, traf Hermann Adler schwer. Sein Bruder Fritz zog nach dem Verkauf des Unternehmens nach München.
… um einen praktischen Beruf zu erlernen
Die antisemitische Politik des NS-Staates wirkte sich auch auf die Lebensperspektiven der beiden Töchter von Hermann und Amalie Adler aus. Ruth hatte ab 1931 die Viktoriaschule besucht, ein Gymnasium für Mädchen im Frankfurter Westend, war dann aber gezwungen, im Herbst 1933 zum Philanthropin, der liberalen Schule der jüdischen Gemeinde, zu wechseln. Dort schloss sie ihre Schulausbildung 1936 mit dem „Einjährigen“, der Mittleren Reife, ab, „um einen Beruf zu ergreifen“, wie das von ihrer Lehrerin Edith Cohn unterschriebene Zeugnis vermerkte.
Während ihres Besuchs in Frankfurt 2023 war Beatrix Traub daran interessiert, die Akten zu ihrer Familie im Hessischen Landesarchiv einzusehen. Dort fand sie das Abgangszeugnis ihrer Mutter und wunderte sich über deren schlechte Note in Mathematik. Ihre Mutter hätte immer den Eindruck erweckt, sie sei in allen Fächern eine gute Schülerin gewesen.
Wie viele jüdische Jugendliche begann Ruth Adler eine Lehre, denn aufgrund der zunehmenden Einschränkungen der Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten für Juden in Deutschland diente eine solche praktische Ausbildung der Vorbereitung auf die Auswanderung in andere Länder. Damit sollten die beruflichen Perspektiven in den Aufnahmeländern verbessert werden. So wurde Ruth Kantor Säuglingspflegerin. Später arbeitete sie in einer Textilfirma, als einziges jüdisches Mädchen. Dort war auch ein junger Mann mit einer Behinderung angestellt, der häufig von anderen Beschäftigten gehänselt wurde. Ruth dagegen unterhielt sich öfters mit ihm.
Ruths jüngere Schwester Margot besuchte zunächst von 1930 bis 1934 die nahegelegene Varrentrappschule und anschließend wie ihre Schwester Ruth das Philanthropin, das sie 1937 verließ, um eine Schneiderlehre zu beginnen.
Trotz der erzwungenen Aufgabe seiner Firma und den Auswirkungen der antijüdischen Gesetze auf die Ausbildung seiner Töchter und trotz des erzwungenen Umzugs in eine kleinere Wohnung in der Westendstraße 85 zögerte Hermann Adler, Deutschland zu verlassen. Das werde bald wieder vorbeigehen, hatte er immer gehofft. Er konnte sich nicht vorstellen auszuwandern. Es war seine Heimat. Hier hatte er sein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut. Seine Familie hatte seit Generationen in diesem Land gelebt.
„Bis 1938 hat mein Vater immer gesagt, dass er nie aus Deutschland weggehen würde. Das war seine Heimat, die er liebte. Er war im Ersten Weltkrieg als Offizier ausgezeichnet worden. Was sollte ihm passieren? Er fühlte sich absolut sicher und als guter Deutscher“, beschrieb Margot Weisz, geb. Adler später die Haltung ihres Vaters vor den Novemberpogromen.
Versteckt in der Mansarde des Hauses
Am 8. November 1938 klingelte Ruths Arbeitskollege plötzlich bei den Adlers. Er warnte Hermann Adler davor, dass es am nächsten Tag Verhaftungen geben könnte, und riet ihm dringend, sich zu verstecken. Mally Adler glaubte dem jungen Mann. Schließlich befolgte ihr Mann widerstrebend den Rat und entschloss sich, zu seiner verwitweten Schwester Ida Fränkel nach Urspringen zu gehen. Er fuhr mit dem Zug nach Lohr am Main. Von dort lief er nach Urspringen, wo er sich in der Mansarde des Hauses seiner Schwester versteckte. Als dort die Gestapo auftauchte, schickte Ida Fränkel die Männer beherzt mit der Bemerkung wieder fort, sie sei verwitwet und daher kein Mann im Haus. So konnte sie ihren Bruder vor der Verhaftung retten.
Hermann Adler war nun klar, dass er Deutschland so schnell wie möglich verlassen musste. Geplant war eine Auswanderung nach Argentinien. Dort lebte seit 1937 eine Cousine von Mally Adler.
Nun begann ein Behörden-Marathon: Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Erstellung von Umzugsgutlisten, unterschieden nach Gegenständen, die vor bzw. nach 1933 gekauft worden waren, und so weiter. Die seit 1933 angeschafften Gegenstände wurden mit hohen Abgaben belegt. Wie die Umzugsgutlisten zeigen, verfügte die Familie über einen gut ausgestatteten Haushalt. Musikalisches Interesse belegen ein Klavier und ein Klavierstuhl, ebenso wie Operngläser und -noten. Die umfangreiche Bücherliste enthält zahlreiche Klassiker wie Schiller, Goethe, Lessing, Keller, Shakespeare und Börne neben anderen Werken der Weltliteratur. Auch die Mitnahme seiner beiden Eisernen Kreuze lag Hermann Adler offensichtlich am Herzen. Ein Tanzstundenkleid weist darauf hin, dass Teenager mitreisten. In dem Umzugsgutsantrag wird ebenfalls eine vor 1933 angeschaffte Puppe genannt, von der später noch die Rede sein wird.
Schmuck durfte nur in begrenztem Umfang mitgeführt und ein Großteil musste abgegeben werden. „Der Nachweis über den Verkauf des nicht frei gegebenen Schmuckes ist erbracht“, stellte die Zollfahndungsstelle am 6. Januar 1939 fest.
Schwierigkeiten bereitete die Mitnahme von Gegenständen, mit denen sich Hermann Adler eine neue Existenz in Argentinien aufbauen wollte. Eigentlich hatte der Kaufmann vor, dort die Vertretung deutscher Firmen zu übernehmen. Da, so das Schreiben der Außenhandelsstelle für das Rhein-Main-Gebiet an den Oberfinanzpräsidenten vom 19. Januar 1939, keine deutsche Firma in ihren Auslandsstellen jüdische Vertreter einstellen würde, sei Hermann Adler nur gestattet, deutsche Waren mitzunehmen, die er entweder verkaufen oder für einen eigenen Betrieb verwenden könnte. Die neuangeschaffte Archo-Schreibmaschine wurde schließlich genehmigt und mit 200% Dego-Abgabe, einer Abgabe für neu angeschaffte Gegenstände an die Deutsche Golddiskobank, belegt.
Abenteuerliche Flucht nach Argentinien
Eine weitere Hürde tat sich auf: Zwar hatte Hermann Adler Schiffskarten für die Ausreise nach Südamerika erworben, jedoch keine Passage erhalten, da alle Schiffe belegt waren. Daher entschloss er sich, mit seiner Familie im März 1939 zunächst nach Großbritannien zu gehen, um dort auf eine freie Passage zu warten. Eine weitere Schwierigkeit ergab sich, da neue Schiffskarten gebucht mussten und es Probleme mit der Rückzahlung der zurückgegebenen Fahrkarten gab. So mussten Verwandte das Geld vorstrecken. Schließlich konnten die Adlers im Juli 1939 mit einem englischen Schiff Richtung Südamerika starten. Mithilfe eines Onkels in den USA hatten die Adlers Visa für Bolivien erhalten. Mit dem Schiff ging es durch den Panama-Kanal nach Arica in Chile und von dort mit dem Zug nach La Paz.
Die hochgelegene Hauptstadt war jedoch keine gute Wahl, denn Hermann Adler bekam dort gesundheitliche Probleme. So ging die abenteuerliche Flucht der Familie weiter. Illegal überquerten die Adlers am 1. September 1939 die Grenze nach Argentinien, wo bereits Freunde aus Frankfurt lebten.
Lebenswege und Schicksale von Angehörigen
1924 starb Hermanns Vater Isaak Adler in Urspringen. Er ist auf dem jüdischen Friedhof in Laudenbach bei Urspringen beerdigt. Isaaks Frau Marianne zog am 20. Dezember 1938 nach Frankfurt, wo einige ihrer Kinder lebten.
Hermans Schwester Flora und ihr Mann Moritz Mannheimer lebten noch bis 1937 in Bütthard in Franken. Moritz Mannheimer war Viehhändler und Landwirt. Seine Frau Flora arbeitete tatkräftig in dem Betrieb mit. Eng war Moritz Mannheimer mit dem Vereinsleben in dem kleinen Ort verbunden. Er war Mitglied im Kriegerverein und bei der freiwilligen Feuerwehr. Seinen Betrieb musste er in den 30er Jahren unter dem Druck der Verhältnisse schließen. 1937 erkrankte Mannheimer schwer und wurde in das jüdische Krankenhaus in Frankfurt gebracht. Dort starb er am 10.8.1937.
Zwei Monate später zog Flora zu ihrer Tochter Irma, die in der Wiesenau 49 in Frankfurt lebte, und verkaufte ihre Haushälfte in Bütthard. Gemeinsam mit ihrer Tochter Irma gelang es Flora Mannheimer im November 1939 über Rotterdam in die USA zu fliehen. Ihr Umzugsgut sollte nachkommen, doch sie erhielt es nie; es wurde versteigert. Flora war offensichtlich religiös, denn in der Umzugsgutliste sind 25 Gebetbücher aufgeführt. Wenigstens konnte sie zwei Gebetbücher retten, die sich in ihrem Handgepäck befanden. Aufgeführt sind in der Liste auch ein Sterbekleid, ein Stammbaum und zwei Puppen, eine Bauernpuppe und eine Teepuppe.
Auch Floras Tochter Dora lebte in Frankfurt. Dort war sie mit dem Kaufmann Ernst Samson verheiratet. Samson arbeitete zeitweise im Familienbetrieb der Adlers in der Boyenstraße, später als Geschäftsführer der Weißfrauen-Kellerei bis zu deren Liquidation 1938. Am 17. November 1938 gelang es ihm, mit seiner Frau über Hamburg in die USA auszuwandern.
Doch nicht alle Angehörigen konnten fliehen: Amalies (Mallys) Eltern, Hugo und Helene Hess, lebten getrennt. Helene Hess lebte bis zu ihrem Tod 1929 bei ihrer Tochter. Sie ist auf dem Friedhof in der Eckenheimer Landstraße beerdigt. Hugo Hess wurde im September 1942 von Frankfurt aus nach Theresienstadt deportiert, wo er drei Wochen später starb.
Auch Hermann Adlers Schwester Hilde Krug wurde ebenso wie deren Tochter Lotte Opfer des Holocaust. Hildes Mann Isidor Krug war bereits 1933 gestorben. Er hatte in Berlin ein Geschäft für Lodenmäntel aufgebaut. Mit den beiden Kindern Lotte und Walter lebte Hilde Krug nach dem Tod ihres Mannes im Oberweg, später in der Ulmenstraße, zuletzt in der Jahnstraße. Möglicherweise blieb sie in Deutschland, um sich um ihre Mutter Marianne Adler zu kümmern, die im Januar 1942 starb und auf dem Jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße in Frankfurt beerdigt ist. Das Doppelgrab war eigentlich für Moritz Mannheimer und seine Frau Flora vorgesehen. Nach der Emigration von Flora Mannheimer in die USA am 14. November 1939 wurde nun ihre Mutter Marianne Adler neben dem Schwiegersohn beerdigt.
1942 war es Hilde Krug aufgrund des im Oktober 1941 erlassenen Auswanderungsverbots nicht mehr möglich, aus Deutschland zu fliehen. Hilde Krug wurde vermutlich im Juni 1942 deportiert und ermordet. Ihre Tochter Lotte wurde von Berlin aus am 3. März 1943 nach Auschwitz verschleppt. Über das Rote Kreuz erfuhren die Adlers nach dem Krieg vom Schicksal ihrer Verwandten.
Hildes Sohn Walter Krug überlebte. Eigentlich sollte er 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien gerettet werden. Ein Antrag auf Mitnahme von Umzugsgut vom 13.6.1939 mit der Adresse Ulmenstraße 7 war bereits eingereicht und genehmigt. Ein Begleitbrief der Jüdischen Anlernwerkstatt vom selben Tag bestätigte, dass Walter Krug seit dem 8. Mai 1939 eine Ausbildung zum Schlosser absolvierte und nun die Gelegenheit hätte, seine Ausbildung in England fortzusetzen. Warum die geplante Auswanderung nicht zustande kam, bleibt offen und geht aus der Akte nicht hervor. Der bereits genehmigte Antrag auf Mitnahme von Umzugsgut konnte jedoch als Grundlage für Walters Flucht Ende 1940 über die Sowjetunion nach Schanghai genutzt werden. Es wurde lediglich die Mitnahme einiger weiterer Gegenstände beantragt. Nach Schanghai hatte es auch Hermanns Bruder und Geschäftspartner Fritz verschlagen. Beiden gelang es 1947 in die USA weiterzuwandern.
Neuanfang
Hermann Adler gelang es in Argentinien nicht mehr, beruflich Fuß zu fassen. Er war bereits über 60 Jahre alt, außerdem sprach er kein Spanisch. Mit einem Mittagstisch hielten sich Hermann und Amalie Adler finanziell über Wasser. Der Tochter Ruth gelang es dank ihrer guten Sprachkenntnisse in einem Büro eine Anstellung zu finden, Margot arbeitete in einer Damenschneiderei. Damit konnten sie auch ihre Eltern unterstützen. So kehrten die Mitglieder der Familie langsam wieder in ein halbwegs normales Leben zurück. Die Adlers waren Mitglied der neu gegründeten jüdischen Gemeinde in Buenos Aires, die Enkel gehörten jüdischen Jugendgruppen an.
Die beiden Töchter gründeten 1944 und 1947 eigene Familien. Ruth Adler heiratete den aus Baden bei Wien stammenden Österreicher Theodor Kantor. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, Beatrix (1948) und Martin (1951).
Mit der sogenannten „Wiedergutmachung“ erhielten Hermann und Amalie Adler nur für einen Bruchteil des Verlustes, den sie erlitten hatten, eine Entschädigung. Aber die Restitution ermöglichte ihnen in ihren letzten Lebensjahren ein Leben ohne Not. Die Bitterkeit blieb, Hermann Adler wollte nie wieder nach Deutschland zurückkehren. Dennoch sprachen die Großeltern Deutsch miteinander – und mit den Enkeln. So lernten Beatrix und Martin ebenso wie ihr Cousin Claudio Roberto Weisz, der einzige Sohn von Margot und Peter Weisz, Deutsch und beherrschen die Sprache heute noch gut.
Auch die beiden Töchter Ruth und Margot fühlten sich beraubt, denn ihnen war die Chance genommen worden, mit einer guten Ausbildung die Schule zu beenden und zu studieren. Sie hatten das Gefühl, ihnen sei ihre Zukunft genommen worden.
Ein Wiedersehen mit den in alle Welt verstreut lebenden Familienmitgliedern erlebte Hermann Adler 1951, als er mit seiner Frau Mally anlässlich des 80. Geburtstags seiner Schwester Flora Mannheimer an einer Familienfeier in den USA teilnahm. Hermann Adler starb 1961 in seiner neuen Heimat, seine Frau Amalie (Mally) 1992 im Alter von 97 Jahren.
Neben dem Neubeginn in einem fremden Land stellte sich noch eine weitere Herausforderung für die jüdischen Emigranten, insbesondere in Südamerika, denn dort lebten viele nichtjüdische Deutsche, unter ihnen zahlreiche frühere Nationalsozialisten. Wie zwei Welten im selben Land beschreibt Martin die Situation in Argentinien. Die beiden Bevölkerungsgruppen hatten eigene Schulen und eigene Zeitungen. Man ging sich offensichtlich aus dem Weg.
Aber auch die politische Situation in Argentinien stellte eine Belastung dar, die Beatrix 1970 dazu bewog, mit ihrem Mann nach Kanada auszuwandern. Ihr Bruder Martin folgte 1989. Margot Weisz blieb in Argentinien.
Besuch in der alten Heimat
Nach dem Tod des Großvaters entschloss sich Amalie (Mally) Adler, mit ihren drei Enkeln drei Monate lang durch Europa und Israel zu fahren. Sie wollte den Kindern zeigen, wo ihre Wurzeln liegen. Eine Woche verbrachten sie in Frankfurt. Die Großmutter führte ihre Enkel in die Westendstraße, wo die Familie früher gelebt hatte, besuchte mit ihnen den jüdischen Friedhof, auf dem Amalies Mutter und ihr Bruder beerdigt sind, und traf den früheren Geschäftsführer der Firma, Herrn Knauff, über den sie sagte, er sei „ein anständiger Mensch, der über all das Geschehene tieftraurig war“. Ein Besuch der Oper durfte nicht fehlen. Gemeinsam hörten sie während ihres Besuchs in Frankfurt die „Meistersinger“ von Wagner.
Erst bei dieser gemeinsamen Fahrt mit der Großmutter erfuhren die Enkel mehr über die Geschichte der Familie in Deutschland. Viele Fragen stellten sich damals den Kindern. Wie war es möglich, dass die Deutschen Hitler gewählt haben? Die Antwort auf diese Frage haben die Enkel nicht vergessen: „Wenn wir den Ersten Weltkrieg nicht verloren hätten, gefolgt von der Inflation und der dramatischen Weltwirtschaftskrise, wäre es nie dazu gekommen. Die ganze Bevölkerung war geschlagen und fühlte sich am Boden. Es gab weder Arbeit noch Geld, und das Land war bankrott. Stolz und Hoffnung gab es auch nicht mehr. Einer musste an allem schuld sein: Die Juden waren die besten Sündenböcke.“ So wuchsen die Enkel auf mit vielen Fragen, auf die sie Antworten suchten, ohne Hass, aber mit einem klaren moralischen Kompass.
1997 kehrte Margot Weisz mit ihrem Mann im Rahmen des Besuchsprogramms der Stadt Frankfurt in ihre Geburtsstadt zurück. Auch ihre Nichte Beatrix und deren Tochter Marion begleiteten sie für einige Tage. „Frau Weisz hat in Frankfurt ihre Schule, ihr Elternhaus, die Kleiderfabrik ihres Vaters wiedergefunden. Alles hat den Krieg heil überstanden. Sie geht tagelang durch die Straßen, an deren Namen sie sich erinnert. Gab es nicht auch eine Schillerstraße? Doch. Am nächsten Tag ist sie dort. Sie zeigt alles ihrem Mann“, fasst Rosemarie Papadopoulos-Killius, die die Familie während des Besuchs begleitete, zusammen. „Argentinien ist schon lange meine Heimat“, sagte Margot Weisz, und stellte gleichzeitig fest, dass dieses Deutschland ein anderes geworden sei.
Spurensuche in Frankfurt und in Urspringen
2023 folgen Martin und Beatrix der Einladung der Stadt Frankfurt, die seit 2012 das Besuchsprogramm mit den nachfolgenden Generationen fortführt. Was hat sie motiviert zu kommen? Sie möchten nicht, dass ihre Geschichte verloren geht. Erinnerung reduziere die Gefahr der Wiederholung, sei aber keine Garantie. Daher möchten sie den Jugendlichen ihre Geschichte erzählen, um ihnen eine Grundlage für reflektierte Entscheidungen an die Hand zu geben. Beatrix und Martin sprechen während ihres Besuches in Frankfurt mit Schülerinnen und Schülern des Friedrich-Dessauer-Gymnasiums in Frankfurt-Höchst und geben den Jugendlichen den Rat: „Denkt daran, wenn ihr Entscheidungen trefft!“ Dankbar sind die beiden für die Gelegenheit, ihre Geschichte an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben.
Auf die beiden Geschwister wartete ein intensives Programm. Tief beeindruckt war Beatrix vom Besuch des Hessischen Landesarchivs. Akten zu Familie zu sichten, war für sie eine sehr emotionale Erfahrung. Sie sah sowohl Akten über die Familienmitglieder als auch über die Firma des Großvaters, eine handgeschriebene Steuererklärung von Hermann Adler, das Abschlusszeugnis ihrer Mutter und blickte auf einen systematischen gutorganisierten Prozess der Verfolgung und Beraubung. „Mind-blowing, eye-opening“, kommentierte Beatrix die Einsichtnahme in diese Akten. Dass die Degussa das Gelände der früheren Firma übernommen hatte, fand sie besonders bemerkenswert.
Emotional berührt hat die beiden Geschwister der Besuch im Palmengarten. Sie betrachteten die alten Bäume und stellten sich vor, dass auch ihre Mutter sie einst angeschaut hatte. Ruth Adler hatte Frankfurt geliebt, trotz aller traumatischer Erfahrungen.
Ein kurzer, aber intensiver Ausflug führte die beiden Besucher aus Kanada zusammen mit einigen ihrer Familienmitglieder nach Urspringen, dem Geburtsort des Großvaters. Dort wurden sie von Leonard Scherg herzlich empfangen und fachkundig geführt. Beeindruckt hat sie die Erinnerungsarbeit an diesem kleinen Ort. Heute ist die frühere Synagoge ein Gedenk- und Erinnerungsort.
Besonderer Höhepunkt des Besuches in Frankfurt war für Beatrix Traub-Werner, ihren Bruder Martin Kantor und für ihre Cousine Claudia Gerstenhaber die Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familien, die 1937 und 1939 nach Argentinien geflüchtet waren.
Die intensive Woche in Frankfurt hat sie alle sehr bewegt. Beeindruckt waren sie von der Unterstützung, Hilfsbereitschaft und dem Interesse der Menschen, die sie während ihres Besuches kennengelernt haben. „Das Erzählen über die Flucht der Eltern und Großeltern war eine offene Wunde“, beschreibt Martin, wie er sich vor dem Besuch fühlte. Die Woche in Frankfurt habe diese Wunde geschlossen, schließt er mit Erleichterung.
Was möchten sie uns und den Jugendlichen weitergeben? „Fragt nach, fragt nach dem Warum, habt keine Angst zu fragen!“ „Think!“ „Don´t forget!“ Und schließlich der Appell: „Lasst euch nicht einschüchtern!“
Charlotte – eine Reise um die Welt
In ihrem Gepäck hatte Beatrix noch ein wichtiges Erinnerungsstück: Eine Puppe namens Charlotte! Charlotte kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. In Deutschland spielte die kleine Ruth mit ihr. Selbst wenn Ruth mit ihren 18 Jahren aus dem Alter mit Puppen zu spielen, herausgewachsen war, nahm sie Charlotte mit auf die Reise in ihre neue Heimat.
Charlotte fuhr durch Holland, sah England, fuhr mit dem Schiff über den Atlantik und durch den Panama-Kanal nach Chile, von dort mit dem Zug nach Bolivien, schließlich auf abenteuerlichen Wegen nach Argentinien. Dort fand sie in Beatrix, Ruths Tochter, eine neue Spielgefährtin und wanderte mit ihr zusammen später nach Kanada aus.
Nun hat Beatrix Traub-Werner die Puppe Charlotte wieder zurück in ihre ursprüngliche Heimat gebracht, wo sie hoffentlich bald in einem Museum zu sehen sein wird, um dort an die Reise von Charlotte und die Geschichte der Familie Adler zu erinnern.