KURZBIOGRAPHIE

Maurice Eis (geb. Moritz Eis)
geb. 1914 in Frankfurt

Teilnahme am Besuchsprogramm: Sohn Rick Eis wollte 2020 teilnehmen, ggf. 2021; 2012 Andrea Jacobs (Nichte); 2013: Carol Fels (Nichte) und Margaret (Margie) Eis Aghion (Tochter)

Eltern
Leopold Eis, geb. 1873 in Bingen
Leja/Leah Liebersohn, geb. 1890 in Odessa

Wohnort in Frankfurt: Nonnengasse 2 (nahe der Hauptsynagoge am Börneplatz)

Verfolgung: Nach der Reichspogromnacht wurde Moritz im KZ Dachau inhaftiert

Emigration: Moritz floh nach Shanghai und von dort in die USA


Quellen:
Eis, Moritz (Maurice): My Memoir, unveröffentlichtes Manuskript.

Eis, Moritz (Maurice): Testimony video für das Visual History Archive. Aus dem Privatbesitz von Rick Eis.

Die Geschichtswerkstatt Gallus berichtet. Historisches und Aktuelles. Ausgabe: Juli 2013. Link

HHStAW 518-74600 (Entschädigungsakte)

ITS Bad Arolsen: 1.1.6.7 / 10637340; 6.3.3.2 / 106926664; 6.3.3.2 / 106926666.

Pfeiffer, Lorenz & Wahlig, Henry: „Heute gilt es, allen jüdischen Sportlern, die heimatlos geworden sind, unsere Reihen zu öffnen.“ – Die Selbstorganisation des jüdischen Fußballs im Schatten von Diskriminierung und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1938. In: Jahrbuch 2013 der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaft e.V.. Hrsg. v. Jürgen Court & Arno Müller. LIT: Berlin 2015, S. 63-82.

Thielemann, Gaby: Der schwere Weg von Frankfurt über Shanghai in die USA (auf dieser Webseite: Familie Eis: Carole Fels und Margaret Eis-Aghion)

Fotos
privater Besitz von Rick Eis

Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISG FFM), Signatur: ISG S8-Stpl_1895-01. Urheber: Ravenstein

Link

Text und Recherche
Willi Jahncke

Maurice Eis (geb. Moritz Eis)

Wenn Hollywood-Starregisseur Steven Spielberg um ein Interview bittet…

Willi Jahncke

Maurice Eis, wie sich der 1914 in Frankfurt geborene Moritz Eis seit seiner Einbürgerung in den USA nannte, staunte nicht schlecht, als er im Jahr 1997 gebeten wurde, ein Interview zu geben, das als Video aufgezeichnet werden sollte. Und zwar nicht im Auftrag von irgendjemandem, sondern von Steven Spielberg, der neben seiner Oscar-prämierten Regie für Schindlers Liste Filmklassiker wie E.T., Indiana Jones oder Jurassic Park drehte, die Shoah Foundation gründete und das Visual History Archive mit Zeitzeugeninterviews aufbaute. Dies veranlasste Maurice dazu, seine Memoiren zu schreiben. Genug zu erzählen hatte er allemal, war er doch nach seiner Inhaftierung im KZ Dachau im Jahr 1938 nach Shanghai geflohen, von wo er zwei Jahre später die Einreisegenehmigung in die USA erhielt, nur um sich alsbald für den Militärdienst zu melden und sich im Krieg gegen sein von den Nationalsozialisten regiertes Heimatland wiederzufinden.

Als der Vater das Geld zum Fenster hinauswarf

Moritz Eis wurde am 15. April 1914 und damit kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges als Sohn von Leopold Eis und dessen Frau Chaja Leja, geb. Liebersohn, in Frankfurt geboren. Der Vater, 1873 in Bingen am Rhein geboren, betrieb einen Antiquitätenladen und hatte seine aus Odessa (damals Russland, heute Ukraine) stammende Frau im Dezember 1911 geheiratet. Der Krieg führte auch Leopold Eis, den zweifachen Familienvater, an die Front. Als deutscher Jude verstand er es wohl wie viele andere deutsche Männer, egal ob jüdisch oder nicht, als seine Pflicht, sein Vaterland „zu verteidigen“, zumindest war das die Botschaft, die Kaiser und Oberste Heeresleitung (OHL) verbreiteten. Er überlebte den Krieg. Allzu viele Deutsche vergaßen später, dass auch Juden im Krieg auf deutscher Seite gekämpft hatten und verschwiegen diese Tatsache bewusst, um die jüdische Gemeinschaft als „undeutsch“ zu verunglimpfen.

Im November 1919 kam neben Moritz und dessen älteren Bruder Max (geboren 1911) mit der Geburt von Martha ein drittes Kind auf die Welt. Trotz dieses persönlichen Glückes betonte Maurice Eis später, dass die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg für die Familie wie für viele andere auch sehr hart gewesen sei, da es kaum Essen gab. Die Brüder Max und Moritz wurden so häufig zur Bäckerei geschickt, um wenigstens ein oder zwei Scheiben Brot zu ergattern, oder auf die Ackerfelder außerhalb der Stadt, wo sie hin und wieder Kartoffeln erhielten. Maurice war sich sicher, in dieser Zeit – vermutlich ohne es zu wissen – Hund „probiert“ zu haben.

An die frühen Jahre der Republik, in denen die Demokratie zu straucheln begann, erinnerte sich Maurice sehr stark: So erzählte er von der Hyperinflation 1923, als sein Vater eines Tages zur Belustigung seiner Kinder das Geld zum Fenster hinauswarf. Es war so wertlos geworden, dass sich die Kinder davon nicht einmal mehr Süßigkeiten kaufen konnten.
In den Wirren um das Ende des Kaiserreiches sowie den schwierigen ersten Jahren der neuen Demokratie blieben kaisertreue Bevölkerungsteile stark vertreten, andere demokratiefeindliche Gruppen kamen empor. Dabei war die später alles dominierende NSDAP, die von Moritz als „Braunhemden“ bezeichnet wurden, zunächst nur eine von vielen Splittergruppen, der gar keine große Aufmerksamkeit zugekommen sei. Es gab viele verschiedene Gruppen wie Kommunisten, „Stahlhelm“ (ein Verband von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg) etc., die sich gegen den neuen Staat stellten und an jedem Wochenende durch die Stadt marschierten und dabei ihre politischen Parolen skandierten. Einen verstärkten Antisemitismus habe Moritz zu dieser Zeit noch nicht wahrgenommen, er habe eher das Gefühl gehabt, dass das Marschieren den vielen Arbeitslosen zu dieser Zeit eine Beschäftigung gegeben habe. Die Familie lebte bis zum Beginn der 20er-Jahre in der Fahrgasse 104, die in die Battonstraße übergeht, und zog dann in die nahegelegene Nonnenstraße um, die heute nicht mehr existiert. Sie lag ganz in der Nähe der Hauptsynagoge am Börneplatz.

Die Nachbarschaft beschrieb Moritz als überwiegend christlich. Dem Vater gehörte hier ein eigenes, mehrgeschossiges Haus mit mehreren Wohnungen, in dem die Familie lebte und gleichzeitig sein Antiquitätengeschäft lag, das ihn sehr stark beschäftigte. Religion spielte für Leopold Eis keine große Rolle, was sich zunächst auch auf die drei Kinder übertrug. Trotz des weltlichen Einflusses des Vaters legte die Mutter von Moritz Wert darauf, dass er im religiösen Sinne erwachsen wurde, indem er seine Bar Mizwa in der Hauptsynagoge feierte, einschließlich des darauf vorbereitenden, wöchentlichen Sonntagsunterrichts. Die Mutter war Hausfrau, daneben aber ehrenamtlich in der jüdischen Gemeinde tätig. Die Familie Eis sei glücklich gewesen, sagte Moritz später.
1921 wurde er im Alter von 7 Jahren eingeschult und schloss seine Schullaufbahn 1928 ab. Er besuchte die Anna-Schule, eine Volks- und Oberrealschule (eine Schulform, die mit modernen Fremdsprachen zum Abitur führte), die ganz in der Nähe des Elternhauses lag.

Die Schule war ganz in der Tradition des Kaiserreiches noch sehr militaristisch geprägt, jeden Morgen mussten sich die Schüler in Reih und Glied aufstellen und strammstehen. Moritz erlebte hier erste Begegnungen mit Antisemitismus: Einer seiner Lehrer, der wie sein Vater im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und verwundet als Invalide zurückgekehrt war, gab allein den Juden die Schuld an der Niederlage. Dies war neben der Dolchstoßlegende, die den Sozialdemokraten die Schuld gab, eine weit verbreitete Verschwörungstheorie. Seinen Zorn ließ der Lehrer nicht offen an seinem einzigen jüdischen Schüler in einer Klasse mit 23 Kindern aus, aber er ließ ihn diesen spüren, wie Moritz später sagte.

An das Philanthropin wollte ihn sein Vater nicht schicken, da sein Sohn „aufgeschlossen“ erzogen werden sollte, wie es Leopold ausdrückte. Trotz dieser Distanz des Vaters zum Judentum, das er immer wieder auch auf die vorwiegend christliche Nachbarschaft zurückführte, feierte die Familie die hohen jüdischen Feiertage und Moritz ging auch nach seiner Bar Mizwa regelmäßig zum Freitagsgebet. Seine jüdische Abstammung und Identität habe er nie verschwiegen.

Moritz beschrieb sich selbst als ein „normales“ Kind, das seit dem ersten Schultag begann, Briefmarken zu sammeln. Eine besondere habe er erhalten, als in den späten 20ern ein Zeppelin auf dem neuen Flugplatz landete, der heute unter dem Namen Flughafen Frankfurt bekannt ist. Die Zeppeline drehten zwei Runden über der Stadt, bevor sie landeten und so hielt Moritz bewusst Ausschau nach diesen, um dann eilig mit dem Fahrrad raus zum neuen Flugplatz zu fahren. Die vielen Schnellstraßen und Autobahnen, die heute den Flughafen umgeben, gab es noch nicht ansatzweise, sodass die Fahrt mit dem Fahrrad nicht so gewagt war, wie es heute wirken könnte. Eines Tages erhielt er von einem Besatzungsmitglied eines Zeppelins tatsächlich eine wertvolle Briefmarke geschenkt.

Besonders gern blickte Maurice auf die Teilnahme an Ferienlagern in Sterbfritz bei Fulda und Kronberg im Taunus in den Sommerferien zurück, in denen die Kinder gemeinsam sangen und sich mit der Nibelungen-Sage beschäftigten. So wurde früh sein Interesse an Oper und Theater geweckt, ausgerechnet „Der Ring“ – eine Serie von vier Opern über die Nibelungen – von Richard Wagner – einem glühenden Antisemiten, der von den Nationalsozialisten vergöttert wurde – entwickelte sich zu einem seiner Lieblingsstücke.

Moritz spielte Feldhockey beim Sportklub Schild, anders als sein Bruder Max, der Fußball spielte. Damals sei Hockey in Deutschland sehr populär gewesen und Moritz genoss die Auswärtsspiele an den Wochenenden an fremden Orten.

Ausbildung bei Ada-Ada in Frankfurt-Höchst und die Verschärfung der Lage für die jüdischen Bürger*innen

Als Moritz seine Schullaufbahn beendete, war die Arbeitslosigkeit weiterhin hoch, auch wenn der große Börsencrash erst noch bevorstand. Durch Kontakte seiner Mutter erhielt er eine dreijährige Ausbildungsstelle, die er am 01.04.1929 in der „Ada-Ada“ Schuhfabrik in Frankfurt-Höchst antrat, die den jüdischen Brüdern Richard und Wilhelm Nathan gehörte. Er erlernte den Beruf Polsterer und war bis 1938 in der Fabrik angestellt, in der er als Schuster arbeitete. Selbst nach der Regierungsübernahme Hitlers habe man nicht sofort die antijüdischen Reden ernst genommen. Ein Kollege sei so eines Tages zur Arbeit in SS-Uniform erschienen und hätte Moritz dabei auf die Schulter geklopft und mit „Heil Hitler und guten Morgen an alle, die nicht daran glauben“ begrüßt, was Maurice später als Spaß und Zeichen deutete, dass selbst SS-Mitglieder nicht von Beginn an glühende Antisemiten gewesen seien.

Seit die Nationalsozialisten zum Boykott von Geschäften mit jüdischen Besitzern aufriefen, von denen es in Frankfurt aufgrund der großen jüdischen Gemeinschaft viele gab, habe man dann aber laut Moritz endgültig verstanden, dass sich die Situation verschlimmert. Zwar habe sein Umfeld niemals negativ auf ihn reagiert, aber man habe im Laufe der Zeit auch unter ihnen eine steigende Angst bemerkt, dass sich der Kontakt zu Juden negativ für sie auswirken könnte. Viele hätten beispielsweise angefangen, „in die andere Richtung zu schauen“. Auch im Sport machten sich die Beschränkungen für Juden bemerkbar. Der Sportklub Schild durfte nur noch auf einem einzigen Platz trainieren. Daneben wurde ‚der Schild‘ wie andere jüdische Sportvereine vom Regionalverband des DFB ausgeschlossen, was zur Folge hatte, dass andere Vereine nicht mehr gegen den Verein seines Bruders Max Eis Fußball spielen durften. (Pfeiffer & Wahlig, S. 69) Ähnliche Einschränkungen dürfte es auch für den Bereich des Feldhockeys gegeben haben, in dem sich Moritz betätigte. Das Schwimmen im Main war nur noch an einer kleinen abgesteckten Stelle in Frankfurt-Niederrad möglich.

Einige jüdische Bürger*innen begannen unter diesem Eindruck, aus Deutschland zu emigrieren. Zu Beginn waren es laut Moritz nur sehr wenige, unter ihnen aber sein bester Freund Franz Schnell, der nach Uruguay auswanderte. In diesem Zuge machte auch Moritz sich Gedanken um seine Zukunft. Der ganzen Familie sei bewusst geworden, dass man in Deutschland nicht überleben werde. Moritz beantragte beim amerikanischen Konsulat in Stuttgart ein Visum für die USA. Dort lebten mit Sonja und Joseph Farbmann Tante und Onkel mütterlicherseits mit ihrer Tochter Anne in Detroit. In weiser Voraussicht buchte er schon eine Schiffskarte für die Überfahrt über den Atlantik. Bereits am Anfang seiner Ausbildung hatte er begonnen, in der Abendschule die englische Sprache zu lernen, daneben aber auch Französisch und Spanisch. Aufgrund der Quotenregelung der USA, die nur eine begrenzte Anzahl an Visa vergab, musste sich Moritz mindestens auf eine vier- bis fünfjährige Wartezeit einstellen, wie ihm mitgeteilt wurde. Zeit, die ihm nicht zur Verfügung stand.

Er verlor zwei Jahre später im August 1938 seine Anstellung in der Ada-Ada Schuhfabrik, die von den jüdischen Besitzern, den Gebrüdern Nathan, im Zuge der Zwangsarisierung 1937 verkauft werden musste. Durch die „Umstellung des Betriebes“ wurde Moritz als Jude entlassen. Als ein durch den Holocaust Vertriebener konnte Maurice nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland vom deutschen Staat Entschädigungen einfordern. Für seinen Antrag auf Entschädigung benötigte er eine Bestätigung seines alten Arbeitgebers, der Frankfurter Schuhfabrik Ada-Ada. Diese stellte im Oktober 1957 eine entsprechende Bescheinigung aus, verwies aber zu den Umständen des vorzeitigen Endes der Beschäftigung: „Ihr Austritt aus unseren Diensten erfolgte wegen Ihrer damals unmittelbar bevorstehenden Auswanderung.“ Es klingt fast so, als hätte Moritz sich aus freien Stücken entschieden, Deutschland zu verlassen, die erzwungene Entlassung wird mit keinem Wort erwähnt. Aber als wie freiwillig kann Moritz‘ Flucht bezeichnet werden, nach den Ereignissen, die nach seiner Entlassung noch folgen sollten?

Häftling in Dachau

So sah er am 09.11.1938 in der Reichspogromnacht die Hauptsynagoge brennen, in der er seine Bar Mizwa gefeiert hatte. Die Feuerwehr sei vor Ort gewesen, habe aber keineswegs das Feuer im Gotteshaus bekämpft, sondern lediglich kontrolliert, dass dieses nicht auf die Nachbarhäuser übergriff. Moritz wusste, dass nun auch Juden ohne Grund verhaftet wurden, weshalb er sein Fahrrad griff und sich im Stadtwald versteckte. Er kehrte abends zurück und wurde am nächsten Morgen ohne Angabe von Gründen verhaftet, nach denen er sich aus Angst vor den Konsequenzen aber auch nicht zu fragen traute. Ein Schneider aus der Nachbarschaft hatte ihn bei der Gestapo verraten und stand zusammen mit zwei SS-Männern an der Tür.

Sein Bruder Max und Vater Leopold waren bereits am Vortag verhaftet worden und wurden ins KZ Buchenwald deportiert. Moritz kam zunächst in die Festhalle, wo alle Gefangenen gesammelt wurden, und wurde ins KZ Dachau bei München deportiert. Vorher hatte man ihn mit den anderen Häftlingen viele Stunden lang stehen lassen, bevor der Transport zum Bahnhof erfolgte. Dort war er laut eigener Aussage vom 11.11. bis zum 05.12.1938 interniert. Laut Angaben des ITS Bad Arolsen war er dort vom 16. bis 29.11.1938. Es war kalt im Winter 1938 in der Nähe von München, trotzdem bekamen die Häftlinge nur eine Hose und ein Hemd.

Mit Ausnahme der morgendlichen Appelle ab 4 Uhr, zu denen sich alle 25.000 Häftlinge auf einem Platz versammeln mussten, bis sie alle gezählt waren, gab es laut Moritz nichts zu tun, man sei den ganzen Tag nur herumgegangen und habe Angst davor gehabt, wie es weitergehen könnte. Die Häftlinge durften sogar noch Geld und Briefe erhalten und hielten im Geheimen freitags kleine Gebetszeremonien ab. Es sei noch nicht zu mörderischen Arbeitseinsätzen oder Erschießungen gekommen, wie es später der Fall war. Dennoch waren die Häftlinge vorsichtig: Als sich bei Moritz eines Tages eine Wunde am Daumen infizierte, riet ihm ein Arzt, der in derselben Baracke schlief, dass er damit besser nicht zum Lagerarzt gehen solle und behandelte ihn stattdessen mit seinem Taschenmesser. Anfang Dezember wurde Moritz Name aufgerufen und ihm mitgeteilt, dass er entlassen wird. Um auf dem Weg aufgrund der kahl geschorenen Haare nicht als Jude erkannt zu werden, setzte Moritz sich eine Mütze auf. Er hatte Angst, sofort wieder grundlos ergriffen zu werden.

Zu Hause er erfuhr er, dass seine Mutter Leja mehrmals täglich im Frankfurter Büro der Gestapo vorgesprochen hatte, um seine Freilassung zu erzielen. Sie konnte sich dabei auf das bereits vorhandene Schiffsticket für die Reise in die USA berufen, ohne dass die Gestapo wusste, dass er noch kein Visum hatte.

So wurde Moritz unter der Bedingung entlassen, Deutschland umgehend innerhalb von zehn Tagen zu verlassen. Aber wo sollte er ohne Einreisegenehmigung hin? Zunächst einmal ging Moritz zum Auswärtigen Amt, um einen Reisepass zu erhalten, wo er zu seinem Glück mit einem Mann ins Gespräch kam, der in der Warteschlange hinter ihm stand und von der Fluchtmöglichkeit Shanghai erzählte, da man dort kein Visum benötigte. Shanghai, das erschien Moritz im ersten Moment wie eine Galaxie entfernt. Kontinentalflüge gab es noch nicht, eine Fahrt dauerte viele Tage. Er fragte bei der jüdischen Gemeinde nach, ob diese Informationen über jüdische Flüchtlinge in Shanghai hätte. Man hatte davon gehört, wusste jedoch nichts Konkretes und riet ihm: „Fahr doch einfach mal hin!“. Da Moritz große Angst vor den Folgen hatte, würde er nicht innerhalb von den vorgeschriebenen zehn Tagen Deutschland verlassen, gab er sein Schiffsticket für die Reise in die USA zurück, erhielt sein Geld zurück und kaufte sich ein Ticket für die Fahrt von Genua nach Shanghai. Er benötigte nur noch Transitvisa für die Durchreise durch die Schweiz und Italien. So startete er nur mit einem Koffer und mit exakt zehn Mark ausgerüstet seine unfreiwillige Weltreise, am vorletzten Tag, den Moritz in Deutschland noch verbringen durfte.

Flucht über Italien nach Shanghai

Am 18.12.1938 begann die Flucht: Zuerst ging es mit dem Zug durch die Schweiz nach Genua, wo sich Moritz drei oder vier Tage aufhielt. Von dort ging es mit dem Schiff „Victoria“ der Reederei Lloyd Triestino, welches Moritz als Luxusdampfer beschrieben wurde, nach Shanghai. Was würde ihn erwarten? Schließlich war Shanghai in den 30er Jahren Schauplatz mehrerer Kämpfe zwischen China und Japan. Einige Stadtteile standen jedoch unter der internationalen Kontrolle durch Amerikaner, Briten und Franzosen.

Zu seiner Überraschung fand er in Shanghai, wo er Ende Dezember ankam, bereits eine gewachsene jüdische Gemeinschaft vor, die Menschen in Not unterstützte, genauso wie das Joint Distribution Committee, eine in New York ansässige Hilfsorganisation amerikanischer Juden, mit deren Hilfen Moritz über die Runden kam, die ihn unter anderem im berühmten „Embankment Building“ unterbrachte, das der wohlhabende Victor Sassoon, Inhaber des Cathay Hotels und weiterer Immobilien, der Gemeinde gespendet hatte. Die jüdischen Flüchtlinge lebten im von den Kämpfen schwer beschädigten und von den Japanern besetzten Hongkou, einem Stadtbezirk nördlich des Huangpu-Flusses, wo auch Moritz nach einer Woche hinkam. Er schrieb der Familie in Frankfurt und forderte sie auf, ihm nachzureisen, da es zu keinerlei Problemen bei der Reise gekommen war.

Zu dieser Zeit durften die Flüchtlinge sich frei in Shanghai bewegen, was ab 1941 so nicht mehr möglich war, als Japan und Amerika im Pazifik gegeneinander kämpften. So kam Moritz bei einem Spaziergang, der ihn zu einem japanischen Markt führte, eine Idee. Er besorgte sich einen Klapptisch, kaufte jeden Morgen Obst auf diesem Markt ein und verkaufte es wieder in Hongku. Damit konnte er sich etwas dazu verdienen und hatte eine Beschäftigung, nach einiger Zeit konnte er sogar einen anderen jungen Mann beschäftigen. Als er sein Geschäft auf Süßwaren ausweiten wollte, erlangte er Bekanntschaft mit einer russischen Verkäuferin. Sie bemerkte sein gutes Englisch und fragte ihn, warum er nicht mehr aus sich machen würde. Sie vermittelte einen Termin bei der Sassoon Company und kurze Zeit später wurde Moritz eingestellt, der von nun an als mittlerer Manager für die Pflege eines Gebäudes auf der anderen Flussseite zuständig war. Nach sechs Monaten wurde er fest eingestellt und wurde sogar Leiter eines kleinen Teams. Von seinem Gehalt konnte er sich bald ein kleines Haus in Hongkou kaufen, in dem er mit der ganzen mittlerweile aus Frankfurt nachgekommenen Familie – seine Eltern und Geschwister Martha und Max sowie dessen Frau und Sohn – leben und überdies eine Haushälterin anstellen konnte, was ihn sehr stolz machte. Die Zeit in Hongkou beschrieb Moritz in seinen Memoiren zwar als hart, jedoch sei die ganze Familie glücklich gewesen, den Nazis lebend entkommen zu sein. So verging die Zeit in Shanghai, die Zahl der Flüchtlinge in Hongkou stieg auf bis zu 20.000 Menschen an.

Dennoch blieb der Wunsch nach einem Leben in den USA bestehen. Er blieb in Kontakt mit seiner Cousine Anne in Detroit, jedoch war es nicht einfach, die notwendigen Unterlagen zusammenzubringen. Zufällig fand Moritz heraus, dass das US-Konsulat nur wenige Straßen von seinem Büro entfernt lag. Als er dieses zum ersten Mal während einer Mittagspause betrat, erkannte er sofort die verzweifelten Gesichter der Mitarbeiter, die schier endlose Schlangen von Wartenden abarbeiten sollten, die sie nicht verstanden, da sie größtenteils fast ausschließlich deutsch und keinerlei englisch sprachen. Als ein Sachbearbeiter in die Menge schrie und fragte, ob jemand Englisch sprechen könne, hob Moritz seine Hand. Es zahlte sich aus, dass er in weiser Voraussicht in Deutschland die englische Sprache erlernt hatte, auch wenn er seinen deutschen Akzent Zeit seines Lebens behalten sollte. Er half dem Sachbearbeiter in dieser und vielen weiteren Mittagspausen aus, wodurch er sich natürlich auch ein paar persönliche Vorzüge erhoffte.

Tatsächlich war es im Sommer 1940 soweit. Nachdem die Familie in Detroit die Angelegenheit an den Sohn Harry weitergeleitet hatte, konnte er das Konsulat überzeugen. Harry war der Cousin von Moritz, der in New York lebte und dort beim Symphonieorchester angestellt war. Gut 21 Monate nach seiner Ankunft in Shanghai erhielt Moritz über eine sogenannte Quotenregelung ein Visum für die USA samt Transitvisum zur Reise durch Japan. Es hatte tatsächlich, wie ihm bereits 1936 in Frankfurt gesagt wurde, etwa vier Jahre gedauert, bis er dieses endlich erhielt. Selbst in seinen Memoiren sagt Maurice rückblickend, dass es ihm das Konsulat sehr schwer gemacht habe. Bald hieß es dennoch, auf unbestimmte Zeit Abschied von der Familie zu nehmen. Auch seine Freunde und Kollegen von der Sassoon Company, die ihm ein wohlwollendes Empfehlungsschreiben ausstellte, verabschiedeten ihn gebührend mit einer Feier.

Let’s go to San Francisco

Moritz verließ Shanghai am 02.09.1940 Richtung San Francisco auf der „Kamakura Maru“ der Reederei Nippon Yusen Keisha (NYK). Ein Aufbruch in ein neues Leben, nicht nur in Bezug auf eine neue Heimat: Auf der Überfahrt lernte Moritz seine spätere Frau Edith Günzberger kennen, geboren am 28.04.1921 in München, die auf einer Zwischenstation in Yokohama, einem Stadtteil von Tokio, an Bord ging. Sie war mit der transsibirischen Eisenbahn durch ganz Russland gefahren und in Wladiwostok an Bord eines Schiffes nach Japan gestiegen. Bis zum Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion war dies ein möglicher Weg in die USA, denn nach der Besetzung Westeuropas konnte man nur noch von Lissabon aus in die USA. Auch sie hatte Verwandtschaft in den USA, nämlich in Chicago, Illinois. Edith wurde am dritten Tag der Zwischenstrecke von Yokohama nach Honolulu, Hawaii, an den Tisch dazugesetzt, an dem Moritz mit einem Bekannten saß. Die ersten beiden Tage war der Speisesaal geschlossen: Aufgrund von schwerer See waren fast alle Passagiere seekrank, Moritz allerdings nicht, weshalb er sich auf Nachfrage selbst in der Küche bedienen durfte.

Am 20.09.1940 kam das Schiff in der Morgensonne in San Francisco an, wo die drei neuen Freunde ein paar Tage gemeinsam verbrachten. Moritz vergaß den Anblick vom Schiff aus auf die Golden Gate Bridge nie. Bis dahin hatten sich Moritz‘ Englischkenntnisse als hilfreich erwiesen, er musste jedoch feststellen, dass diese in den USA als sehr rudimentär bezeichnet werden mussten. Eine weitere lange Reise von der Westküste an die Ostküste lag vor ihm, er musste nach New York zu seinen Verwandten. Als Edith sich ein Zugticket nach Chicago buchte, entschloss sich Moritz kurzerhand mitzufahren und von dort einen weiteren Zug nach New York zu nehmen. So verbrachten die beiden weitere Stunden miteinander, in denen sie sich besser kennenlernten, auch wenn sich ihre Wege sodann zeitweilig trennen sollten. In New York angekommen wurde Moritz von seiner dritten Cousine Frieda abgeholt und zur Wohnung ihres Bruders Harry gebracht. Er wohnte in der 5th Avenue und 51st Street. Zur Orientierung: Dort steht heute das Rockefeller Center, mitten in Manhattan! Wohnungen sind dort heute wohl kaum zu bezahlen. Moritz blieb eine Woche bei ihnen, die Stadt erschlug ihn regelrecht, weshalb er in Absprache mit Harry beschloss, sich auf den Weg nach Detroit, Michigan, zu begeben, wo ihn die Familie seines Onkels herzlich empfing.

Schnell fand er durch dessen Vermittlung eine Anstellung als Buchhalter bei einer Autoteilefirma in River Rouge, einem Vorort von Detroit. Von seinen acht Dollar Wochenverdienst sandte er immer zwei bis drei Dollar zu seiner Familie nach Shanghai. Seine Kollegen nahmen in herzlich auf und zum Bowling spielen mit. Weiterhin besuchte er Abendkurse, um sein Englisch zu verbessern und sich von seinem starken deutschen Akzent zu befreien, was ihm aber nicht wirklich gelang. Gleichzeitig wurde er bereits im Oktober 1940, einen Monat nach seiner Ankunft in den USA, zum Militärdienst registriert, ohne Staatsbürger zu sein. Wie aber war das möglich? Er bezeichnete sich selbst als Alien, was in den USA Personen beschreibt, die weder die amerikanische Staatsbürgerschaft noch einen festen Wohnsitz besitzen. Bei der Einreise in die USA hatte Moritz betont, dass er die Staatsbürgerschaft anstrebe. Dies qualifizierte ihn für den Militärdienst. Nachdem er mit der Höchstnote 1A gemustert wurde, erhielt er bereits im Dezember die Mitteilung, dass er eingezogen werden sollte. Sein Chef wollte ihn gerne im Betrieb behalten und ihm eine Bescheinigung ausstellen, dass er ihn dringend benötige, was Moritz aber ablehnte, da er Angst hatte, dass sich dies negativ auf den Prozess zur Erlangung seiner Staatsbürgerschaft ausgewirkt hätte. Anfang 1941 wurde Maurice ins Militär einberufen, auch die Detroit Press berichtete über den „New draftee once rejected by Hitler“. So steckte Moritz Eis aus Frankfurt zu Beginn des Jahres 1941 in einer amerikanischen Uniform aus dem Ersten Weltkrieg.

Anstelle von Übungen im Gelände besuchte Moritz zunächst die Militärschule. Er übte das Schreiben mit der Schreibmaschine und übersetzte Texte, wodurch sich sein Englisch stark verbesserte. Bei der Verlegung seiner Einheit nach Camp Forrest, Tennessee, wurde er zum medizinischen Assistenten ausgebildet, eine Kampf-ausbildung erhielt er zunächst nicht. Laut seinem Sohn Rick habe er wohl aufgrund seines starken deutschen Akzents keine Waffe erhalten, Maurice aber meinte, kein Misstrauen von Kameraden wegen seiner Abstammung erlebt zu haben. Er vermutete lediglich, dass einer seiner Vorgesetzten ein Antisemit war.

Nach dem Angriff Japans auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbour im Dezember 1941 traten die USA in den Krieg ein. Damit war klar, dass die eigentlich einjährige Einberufung von Moritz bis zum Ende des Krieges dauern würde. Sein Einsatz im Krieg gegen Deutschland und dessen Verbündete stand bevor. Ihn durchzogen dabei keine Revanchegedanken, wie er selbst betonte. Seine größte Sorge war weiterhin, dass er kein amerikanischer Staatsbürger war, was sich aber alsbald ändern sollte.

Zunächst musste er seinen Alien-Status verlängern, wobei einem Postbeamten auffiel, dass sich Moritz als „Alien“ laut Gesetz eigentlich gar nicht auf dem Gelände des Militärs hätte aufhalten dürfen. Der Gesetzgeber hatte sich wohl nie vorstellen können, dass man auf Immigranten im Militär zurückgreifen würde. Niemand interessierte sich für dieses Gesetz. In Anbetracht seiner bevorstehenden Abreise nach Europa schrieb er einen Brief an die Einwanderungsbehörde in Cincinnati, um die Dringlichkeit seiner Einbürgerung zu betonen. An einem Samstag sollte es dann soweit sein, ein Mann der Behörde war gekommen. Sie benötigten einen Richter, aber welche Gerichte haben samstags geöffnet? Ein Ladeninhaber gab ihm Namen und Telefonnummer eines Richters, der sich das Anliegen von Moritz anhörte und tatsächlich vorbeikam, um seine Einbürgerung durchzuführen. Ebenfalls anwesend waren zwei amerikanische „Zeugen“, die Moritz kurzerhand auf der Straße angesprochen und bezahlt hatte, damit sie ihn begleiteten. Da keiner der Anwesenden außer Moritz mit einer Schreibmaschine umgehen konnte, tippte er seine vom Richter diktierte Einbürgerungsurkunde kurzerhand selbst ab.

Es bedeutete ihm sehr viel, endlich Amerikaner zu sein und im Militär zu dienen. Maurice, wie Moritz nun hieß, fühlte sich nicht mehr als Deutscher. Er besuchte vor der Abreise noch einmal Edith und verbrachte Zeit mit ihr in Chicago. Am 12.12.1941, weniger als ein Jahr nach seiner Ankunft in den USA, befand sich Moritz auf der „Acquatainia“, einem Schiff aus dem Ersten Weltkrieg, das ihn und seine Kameraden von New York über den Atlantik nach Greenock, Schottland und von dort mit dem Zug nach in die Nähe von London und damit ein Stück näher an das Land brachte, aus dem er 1938 geflohen war.

D-Day und der erste jüdische Gottesdienst in Remagen

Moritz war lange Zeit bei London und Oxford stationiert. In der Nacht vom 05. auf den 06.06.1944 wurde die Truppe gegen 2 Uhr geweckt. Sie sollte an einem der berühmtesten Manöver der Militärgeschichte teilnehmen: Dem D-Day, der Landung der Alliierten in der Normandie. Die Ereignisse dieses Tages lassen sich wohl kaum nachvollziehen, Tausende Soldaten wurden bei rauer See an den Strand herangefahren und mussten versuchen, sich einen Weg durch den Kugelhagel der Deutschen am sogenannten Omaha Beach zu schlagen. Steven Spielberg hat diese Schlacht in seinem Film „Der Soldat James Ryan“ schonungslos nachgestellt, und doch ist dies nur eine Szene in einem Film. Für Maurice war es die grauenhafte Realität. Er erzählte von den vielen Schüssen, dem vielen Blut, den vielen Toten. „Now, it was every man for himself. […] It was hell on earth […].“ Es kamen mehr Männer ums Leben, als lebend am Strand ankamen. Er sei wohl unter einem glücklichen Stern geboren, wie er es 1997 im großen Interview auf die Frage ausdrückte, ob er sich jemals gefragt habe, wie er die Flucht aus Deutschland und den Krieg überlebt habe.

Nach verschiedenen Stationen in Frankreich und Belgien zog die Einheit von Maurice Richtung Deutschland und an den Rhein. Sie kamen in die Nähe von Remagen, wo noch eine funktionstüchtige Brücke stand, die Maurice mit einem Kameraden überquerte. Er erhielt den ungewöhnlichen Auftrag, einen jüdischen Gottesdienst zu organisieren, was ihm gelang. Ein extra angefertigtes Schild wies auf diesen hin.

Maurice war mit seiner Einheit bis Leipzig gekommen, als die amerikanischen auf sowjetische Truppen stießen. Er wurde danach in der Tschechoslowakei eingesetzt, vornehmlich in Pilsen, um die Krankenhäuser vor Übergriffen zu beschützen. Zudem organisierte er die Verteilung von ankommenden deutschen Kriegsgefangenen in Lager mit. Häufig sprachen ihn diese an, ob er Deutscher sei. Er konnte nach wie vor nicht seinen Akzent verbergen. Dennoch gab er ihnen gegenüber nie zu, ursprünglich aus Deutschland zu stammen, auch wenn diese es sich wahrscheinlich denken konnten. Maurice fühlte sich als Amerikaner und wollte auch als solcher angesehen werden, seine deutsche Identität hatte er vollkommen aufgegeben.

Eigentlich sollte Maurice nach dem in Europa beendeten Krieg noch einmal in den Pazifikkrieg entsandt werden, da ihm Sprachkenntnisse in Chinesisch aufgrund seiner Zeit in Shanghai nachgesagt wurden, was Maurice im Interview verneinte. Er hatte die aufgegriffenen Fetzen wieder vergessen. Zu seinem persönlichen Glück und tausendfachen Unglück für Andere beendeten die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 auch im Pazifik den Krieg. Das Angebot, bei den Nürnberger Prozessen gegen die Kriegsverbrecher als Übersetzer zu arbeiten, schlug Moritz aus. Er wollte zurück in die USA und seine Familie aus Shanghai nachholen. Er wurde am 20.10.1945 aus dem Militär entlassen, nach fast 4¾ Jahren Militärdienst für ein Land, in dem er zuvor nur 3 Monate gelebt hatte.

Ein glückliches und zufriedenes Leben

Maurice fand eine Anstellung als Verkäufer in River Rouge, Michigan, bei der Cooperative Parts & Equipment Company. Die Verbindung zu Edith war geblieben. Als diese im Frühling 1946 in Detroit Freunde besuchte, war auch Maurice eingeladen. Kurze Zeit später verlobten sich die beiden und heiraten am 09.06.1946. Maurice wäre gerne in Detroit geblieben, da er dort eine Anstellung hatte, dennoch zog er nach Chicago, Illinois, wo er als Lagerist und später als Vertreter arbeitete, da dies nun schon seit fünf Jahren Ediths neue Heimat geworden war. Schon bald war die Familie zu viert, 1949 wurde Margie, 1951 Rick geboren, der eigentlich am Besuchsprogramm 2020 teilnehmen wollte, welches aufgrund der Corona-Pandemie ausfallen musste.

1956 kam Maurice das erste Mal in seine Heimatstadt zurück, zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern, denen er seine alte Heimat zeigen wollte, unter anderem das Haus in der Nonnenstraße. Er musste jedoch feststellen, dass weder das Haus noch die Straße länger existierten. Sie waren im Krieg zerstört worden und an der Stelle der Straße befanden sich mittlerweile neue Häuser mit Parkanlagen. Generell konnte Maurice sich in seiner Geburtsstadt, die im Krieg völlig zerstört worden war, nicht mehr zurechtfinden. In den 1980er Jahren nahm Maurice mit Edith auch am Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt für die ehemaligen Bewohner teil, die im Zuge der NS-Diktatur aus Deutschland fliehen mussten. Die Stadt habe sich sehr bemüht und man habe gemerkt, dass es andere Leute waren, die fast alle erst nach dem Krieg und nach den Nationalsozialisten geboren seien. Ähnlich äußerten sich auch seine Tochter Margie und seine Nichte Carol Fels, die Tochter seines Bruders Max, die Frankfurt im Zuge des Besuchsprogramms 2013 besuchten (Famile Eis).

Maurice und Edith engagierten sich bis ins hohe Alter in gemeinnützigen Vereinen wie „Meals on Wheels“. Auch seine Leidenschaft aus Kindheitstagen, das Sammeln von Briefmarken, nahm Maurice wieder auf. Die wertvollen Exemplare, die er bis 1938 in Deutschland gesammelt hatte, waren freilich verloren.

Wie viele Menschen können am Ende ihres Lebens behaupten, auf eine so bewegte persönliche Geschichte zurückblicken zu können? Maurice starb am 25. April 2009, zehn Tage nach seinem 95. Geburtstag.