So wurde Moritz unter der Bedingung entlassen, Deutschland umgehend innerhalb von zehn Tagen zu verlassen. Aber wo sollte er ohne Einreisegenehmigung hin? Zunächst einmal ging Moritz zum Auswärtigen Amt, um einen Reisepass zu erhalten, wo er zu seinem Glück mit einem Mann ins Gespräch kam, der in der Warteschlange hinter ihm stand und von der Fluchtmöglichkeit Shanghai erzählte, da man dort kein Visum benötigte. Shanghai, das erschien Moritz im ersten Moment wie eine Galaxie entfernt. Kontinentalflüge gab es noch nicht, eine Fahrt dauerte viele Tage. Er fragte bei der jüdischen Gemeinde nach, ob diese Informationen über jüdische Flüchtlinge in Shanghai hätte. Man hatte davon gehört, wusste jedoch nichts Konkretes und riet ihm: „Fahr doch einfach mal hin!“. Da Moritz große Angst vor den Folgen hatte, würde er nicht innerhalb von den vorgeschriebenen zehn Tagen Deutschland verlassen, gab er sein Schiffsticket für die Reise in die USA zurück, erhielt sein Geld zurück und kaufte sich ein Ticket für die Fahrt von Genua nach Shanghai. Er benötigte nur noch Transitvisa für die Durchreise durch die Schweiz und Italien. So startete er nur mit einem Koffer und mit exakt zehn Mark ausgerüstet seine unfreiwillige Weltreise, am vorletzten Tag, den Moritz in Deutschland noch verbringen durfte.
Flucht über Italien nach Shanghai
Am 18.12.1938 begann die Flucht: Zuerst ging es mit dem Zug durch die Schweiz nach Genua, wo sich Moritz drei oder vier Tage aufhielt. Von dort ging es mit dem Schiff „Victoria“ der Reederei Lloyd Triestino, welches Moritz als Luxusdampfer beschrieben wurde, nach Shanghai. Was würde ihn erwarten? Schließlich war Shanghai in den 30er Jahren Schauplatz mehrerer Kämpfe zwischen China und Japan. Einige Stadtteile standen jedoch unter der internationalen Kontrolle durch Amerikaner, Briten und Franzosen.
Zu seiner Überraschung fand er in Shanghai, wo er Ende Dezember ankam, bereits eine gewachsene jüdische Gemeinschaft vor, die Menschen in Not unterstützte, genauso wie das Joint Distribution Committee, eine in New York ansässige Hilfsorganisation amerikanischer Juden, mit deren Hilfen Moritz über die Runden kam, die ihn unter anderem im berühmten „Embankment Building“ unterbrachte, das der wohlhabende Victor Sassoon, Inhaber des Cathay Hotels und weiterer Immobilien, der Gemeinde gespendet hatte. Die jüdischen Flüchtlinge lebten im von den Kämpfen schwer beschädigten und von den Japanern besetzten Hongkou, einem Stadtbezirk nördlich des Huangpu-Flusses, wo auch Moritz nach einer Woche hinkam. Er schrieb der Familie in Frankfurt und forderte sie auf, ihm nachzureisen, da es zu keinerlei Problemen bei der Reise gekommen war.
Zu dieser Zeit durften die Flüchtlinge sich frei in Shanghai bewegen, was ab 1941 so nicht mehr möglich war, als Japan und Amerika im Pazifik gegeneinander kämpften. So kam Moritz bei einem Spaziergang, der ihn zu einem japanischen Markt führte, eine Idee. Er besorgte sich einen Klapptisch, kaufte jeden Morgen Obst auf diesem Markt ein und verkaufte es wieder in Hongku. Damit konnte er sich etwas dazu verdienen und hatte eine Beschäftigung, nach einiger Zeit konnte er sogar einen anderen jungen Mann beschäftigen. Als er sein Geschäft auf Süßwaren ausweiten wollte, erlangte er Bekanntschaft mit einer russischen Verkäuferin. Sie bemerkte sein gutes Englisch und fragte ihn, warum er nicht mehr aus sich machen würde. Sie vermittelte einen Termin bei der Sassoon Company und kurze Zeit später wurde Moritz eingestellt, der von nun an als mittlerer Manager für die Pflege eines Gebäudes auf der anderen Flussseite zuständig war. Nach sechs Monaten wurde er fest eingestellt und wurde sogar Leiter eines kleinen Teams. Von seinem Gehalt konnte er sich bald ein kleines Haus in Hongkou kaufen, in dem er mit der ganzen mittlerweile aus Frankfurt nachgekommenen Familie – seine Eltern und Geschwister Martha und Max sowie dessen Frau und Sohn – leben und überdies eine Haushälterin anstellen konnte, was ihn sehr stolz machte. Die Zeit in Hongkou beschrieb Moritz in seinen Memoiren zwar als hart, jedoch sei die ganze Familie glücklich gewesen, den Nazis lebend entkommen zu sein. So verging die Zeit in Shanghai, die Zahl der Flüchtlinge in Hongkou stieg auf bis zu 20.000 Menschen an.
Dennoch blieb der Wunsch nach einem Leben in den USA bestehen. Er blieb in Kontakt mit seiner Cousine Anne in Detroit, jedoch war es nicht einfach, die notwendigen Unterlagen zusammenzubringen. Zufällig fand Moritz heraus, dass das US-Konsulat nur wenige Straßen von seinem Büro entfernt lag. Als er dieses zum ersten Mal während einer Mittagspause betrat, erkannte er sofort die verzweifelten Gesichter der Mitarbeiter, die schier endlose Schlangen von Wartenden abarbeiten sollten, die sie nicht verstanden, da sie größtenteils fast ausschließlich deutsch und keinerlei englisch sprachen. Als ein Sachbearbeiter in die Menge schrie und fragte, ob jemand Englisch sprechen könne, hob Moritz seine Hand. Es zahlte sich aus, dass er in weiser Voraussicht in Deutschland die englische Sprache erlernt hatte, auch wenn er seinen deutschen Akzent Zeit seines Lebens behalten sollte. Er half dem Sachbearbeiter in dieser und vielen weiteren Mittagspausen aus, wodurch er sich natürlich auch ein paar persönliche Vorzüge erhoffte.
Tatsächlich war es im Sommer 1940 soweit. Nachdem die Familie in Detroit die Angelegenheit an den Sohn Harry weitergeleitet hatte, konnte er das Konsulat überzeugen. Harry war der Cousin von Moritz, der in New York lebte und dort beim Symphonieorchester angestellt war. Gut 21 Monate nach seiner Ankunft in Shanghai erhielt Moritz über eine sogenannte Quotenregelung ein Visum für die USA samt Transitvisum zur Reise durch Japan. Es hatte tatsächlich, wie ihm bereits 1936 in Frankfurt gesagt wurde, etwa vier Jahre gedauert, bis er dieses endlich erhielt. Selbst in seinen Memoiren sagt Maurice rückblickend, dass es ihm das Konsulat sehr schwer gemacht habe. Bald hieß es dennoch, auf unbestimmte Zeit Abschied von der Familie zu nehmen. Auch seine Freunde und Kollegen von der Sassoon Company, die ihm ein wohlwollendes Empfehlungsschreiben ausstellte, verabschiedeten ihn gebührend mit einer Feier.
Let’s go to San Francisco
Moritz verließ Shanghai am 02.09.1940 Richtung San Francisco auf der „Kamakura Maru“ der Reederei Nippon Yusen Keisha (NYK). Ein Aufbruch in ein neues Leben, nicht nur in Bezug auf eine neue Heimat: Auf der Überfahrt lernte Moritz seine spätere Frau Edith Günzberger kennen, geboren am 28.04.1921 in München, die auf einer Zwischenstation in Yokohama, einem Stadtteil von Tokio, an Bord ging. Sie war mit der transsibirischen Eisenbahn durch ganz Russland gefahren und in Wladiwostok an Bord eines Schiffes nach Japan gestiegen. Bis zum Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion war dies ein möglicher Weg in die USA, denn nach der Besetzung Westeuropas konnte man nur noch von Lissabon aus in die USA. Auch sie hatte Verwandtschaft in den USA, nämlich in Chicago, Illinois. Edith wurde am dritten Tag der Zwischenstrecke von Yokohama nach Honolulu, Hawaii, an den Tisch dazugesetzt, an dem Moritz mit einem Bekannten saß. Die ersten beiden Tage war der Speisesaal geschlossen: Aufgrund von schwerer See waren fast alle Passagiere seekrank, Moritz allerdings nicht, weshalb er sich auf Nachfrage selbst in der Küche bedienen durfte.
Am 20.09.1940 kam das Schiff in der Morgensonne in San Francisco an, wo die drei neuen Freunde ein paar Tage gemeinsam verbrachten. Moritz vergaß den Anblick vom Schiff aus auf die Golden Gate Bridge nie. Bis dahin hatten sich Moritz‘ Englischkenntnisse als hilfreich erwiesen, er musste jedoch feststellen, dass diese in den USA als sehr rudimentär bezeichnet werden mussten. Eine weitere lange Reise von der Westküste an die Ostküste lag vor ihm, er musste nach New York zu seinen Verwandten. Als Edith sich ein Zugticket nach Chicago buchte, entschloss sich Moritz kurzerhand mitzufahren und von dort einen weiteren Zug nach New York zu nehmen. So verbrachten die beiden weitere Stunden miteinander, in denen sie sich besser kennenlernten, auch wenn sich ihre Wege sodann zeitweilig trennen sollten. In New York angekommen wurde Moritz von seiner dritten Cousine Frieda abgeholt und zur Wohnung ihres Bruders Harry gebracht. Er wohnte in der 5th Avenue und 51st Street. Zur Orientierung: Dort steht heute das Rockefeller Center, mitten in Manhattan! Wohnungen sind dort heute wohl kaum zu bezahlen. Moritz blieb eine Woche bei ihnen, die Stadt erschlug ihn regelrecht, weshalb er in Absprache mit Harry beschloss, sich auf den Weg nach Detroit, Michigan, zu begeben, wo ihn die Familie seines Onkels herzlich empfing.
Schnell fand er durch dessen Vermittlung eine Anstellung als Buchhalter bei einer Autoteilefirma in River Rouge, einem Vorort von Detroit. Von seinen acht Dollar Wochenverdienst sandte er immer zwei bis drei Dollar zu seiner Familie nach Shanghai. Seine Kollegen nahmen in herzlich auf und zum Bowling spielen mit. Weiterhin besuchte er Abendkurse, um sein Englisch zu verbessern und sich von seinem starken deutschen Akzent zu befreien, was ihm aber nicht wirklich gelang. Gleichzeitig wurde er bereits im Oktober 1940, einen Monat nach seiner Ankunft in den USA, zum Militärdienst registriert, ohne Staatsbürger zu sein. Wie aber war das möglich? Er bezeichnete sich selbst als Alien, was in den USA Personen beschreibt, die weder die amerikanische Staatsbürgerschaft noch einen festen Wohnsitz besitzen. Bei der Einreise in die USA hatte Moritz betont, dass er die Staatsbürgerschaft anstrebe. Dies qualifizierte ihn für den Militärdienst. Nachdem er mit der Höchstnote 1A gemustert wurde, erhielt er bereits im Dezember die Mitteilung, dass er eingezogen werden sollte. Sein Chef wollte ihn gerne im Betrieb behalten und ihm eine Bescheinigung ausstellen, dass er ihn dringend benötige, was Moritz aber ablehnte, da er Angst hatte, dass sich dies negativ auf den Prozess zur Erlangung seiner Staatsbürgerschaft ausgewirkt hätte. Anfang 1941 wurde Maurice ins Militär einberufen, auch die Detroit Press berichtete über den „New draftee once rejected by Hitler“. So steckte Moritz Eis aus Frankfurt zu Beginn des Jahres 1941 in einer amerikanischen Uniform aus dem Ersten Weltkrieg.