KURZBIOGRAHIE

Nora Frankel geb. Nora Bergmann

Geb. 1926 in Frankfurt

Teilnahme ihrer Schwägerin Estelle Dzienciol am Besuchsprogramm 2012
Teilnahme ihrer Söhne Ian und Gary und ihres Enkels Laivi am Besuchsprogramm 2023

Eltern:
Vater: Israel Bergmann aus Nevisanz/Polen, in Auschwitz ermordet
Mutter: Esther Gustel Bergmann geb. Mandel aus Radzichow/Polen, in Minsk ermordet

Großeltern väterlicherseits:
Jakob Bergmann aus Polen, in Majdanek ermordet
Leah Bergmann geb. Frenkel aus Polen, in Frankreich gestorben

Großeltern mütterlicherseits:
Großvater: Marcus Mandel aus Radzichow/Polen, überlebt
Großmutter: Malka Mandel geb. Breich aus Polen, überlebt

1939 Emigration Anfang Juli mit dem Kindertransport nach Manchester/England
1949 Auswanderung Januar zu Bruder nach Brisbane/Australien
1951 Heirat mit Philip Frankel in Brisbane
Geburt dreier Kinder: Ian, Gary und Robyn
1961 Umzug in das eigene Haus in der Cavendish Road, Holland Park, Vorort von Brisbane


Quellen:

Unveröffentlichte Erinnerungen von Nora Frankel, undatiert, nach 1961: „I came alone“

HHStA Wiesbaden: Leopold Bergmann Abt. 518 Nr. 9636

HHStA Wiesbaden: Israel Bergmann Abt. 518 Nr. 9632

Arolsen Archives

Fotos der Familie Bergmann: Estelle Dzienciol geb. Bergmann, Familie Frankel

Internetrecherchen: Jean Mandel, Leo Mandel, Israel Bergmann, Malka Mandel, Familie Frankel

Text:
Waltraud Giesen

Recherche:
Angelika Rieber und Waltraud Giesen

Erschienen:
2024

Nora Frankel geb. Bergmann

„Being only thirteen, unable to speak a word of English, I was sent to Manchester.“

Von Waltraud Giesen

Nora Bergmann war ein „Frankfurter Mädchen“, dreizehn Jahre lang, bis sie 1939, zwei Monate vor Kriegsbeginn, mit dem Kindertransport nach England ausreisen musste. Sie verlor beide Eltern in der Shoa. Einige Jahre nach Kriegsende wanderte sie zu ihrem Bruder Leopold nach Australien aus. Erst 73 Jahre später, im Jahr 2012, kamen Leopolds Tochter Estelle und ihr Mann Max auf Einladung der Stadt Frankfurt aus Melbourne/Australien in Noras Heimatstadt zurück.

Kindheit in Frankfurt

Geboren am 28. April 1926 im Röderbergweg 97 (heute Waldschmidtstraße 129-131) in der Klinik der Rothschildtschen Stifung, war Nora Bergmann das zweite Kind ihrer Eltern, des Kaufmanns Israel Bergmann und seiner Ehefrau Esther Gustel geb. Mandel, die damals zusammen mit dem fünf Jahre älteren Bruder Leopold in der Kleinen Friedbergerstaße 4 wohnten. So steht es in ihrer Geburtsurkunde.
Daran kann sich Nora in ihrer Schrift „I came alone“ nicht mehr erinnern. Dagegen weiß sie genau, dass sie eine sorgenfreie, behütete Kindheit in ihrer liebevollen Familie genoss, ebenso bei ihren in der Nähe wohnenden Großeltern Jakob und Leah Bergmann geb. Frenkel in der Wittelsbacher Allee 11 und anderen Verwandten, besonders ihrer Großtante Bronya Stieglitz, Schwester ihrer Großmutter Leah, und deren beiden Kindern Judith und Marianne.
Sie wohnten, seit Nora denken kann, im Ostend, in der Uhlandstraße 38, in einer Dreizimmerwohnung im zweiten Stock, das Haus steht heute noch.
Ihr Vater Israel arbeitete zusammen mit seinen vier jüngeren Brüdern (Osias, Michel, Emanuel, David) in deren Firma „Gebrüder Bergmann OHG, Trikotagen, Wäsche und Wäschestoffe“. In Noras Erinnerung stellten sie auch Hemden her.

Im Haus in der Uhlandstraße 38 wohnten jüdische und nicht jüdische Familien gut nachbarlich zusammen. So erzählt Nora, dass sie mit den beiden Mädchen der Familie Hauser aus dem Erdgeschoss Treppauf-treppab-Rennen spielte und sogar heimlich vom versteckten Kuchen der Mutter Hauser naschte, und dass die nicht jüdische Nachbarin auf ihrem Stockwerk ihr an Ostern Ostereier schenkte.
Die Sabbat-Nachmittage verbrachte die Familie bei ihren Frankfurter Großeltern Bergmann, gerne saß Nora spät abends mit Großvater Jakob auf der Veranda und bewunderte den Sternenhimmel.
Als sie in die „Israelitische Volksschule“ im Röderbergweg 29 eingeschult wurde, eine 1892 von der Israelitischen Gemeinschaft gegründete private Schule für jüdische Mädchen, hatte sie nur einen Schulweg von zehn Minuten. Zunächst, um 1932, waren in ihrer Klasse, so erzählt sie, 35 Mädchen, deren Anzahl aber immer mehr abnahm. Als die Schule nach den Novemberpogromen 1938 schließen musste, legte man die Klassen mit denen der Samson-Raphael-Hirsch-Schule (eine jüdische Realschule für Jungen und ein jüdisches Lyceum für Mädchen) zusammen.
Ihre Klassenkameradin und Schulfreundin war Rosel Federmann, mit der sie gerne zusammen war, am Sabbat und an Feiertagen verschwanden die beiden Mädchen gern in der Sukka der Bergmanns und knackten Nüsse und aßen Schokolade.

Gerne ging sie nach der Schule mit ihren kleinen „Tanten“ Marianne und Judith Stieglitz, Kinder ihrer Großtante Bronya Stieglitz, am Mainufer spazieren, und allen dreien wurden danach die Beine von Bronya massiert.
Nach 1933 war der Schulweg für sie und ihre Klassenkameradinnen angstbesetzt: „Nazi“-Jungen passten sie ab, warfen ihnen Steine nach und einmal einen Eimer voll Salzwasser in das Gesicht, so dass sie fast geblendet waren.
Ihr großer Bruder Leopold kümmerte sich sehr um sie und nahm sie oft mit ins Kino, was ihr besondere Freude machte.

Noras Bruder Leopold

Leopold, Leo genannt, war zunächst Schüler der Israelitischen Volksschule, dann der Realschule der Israelitischen Religionsgesellschaft, sein Entlassungszeugnis von 1936 – nun wieder von der Israelitischen Volksschule – ist erhalten.

Im Jahr 1933 wanderten die Großeltern Bergmann nach St. Dié in den Vogesen in Frankreich aus, wo später ihre Großmutter Leah starb.
Infolge der antijüdischen Gesetze kam es 1938 zur Auflösung der ehemals florierenden Wäschefirma der Brüder Bergmann. Nora berichtet, dass ihr Vater daraufhin Zigaretten an Cafés und Clubs verkaufte, ihre Mutter war zuletzt bei der Färberei Gebrüder Röver angestellt, wie Leopold 1956 in Brisbane in einer Eidesstattlichen Versicherung angibt.
Wie Nora erzählt, bereitete sich Leopold nach seiner Schulentlassung ab 4. Mai 1936 dann in der Schlosserklasse der Jüdischen Anlernwerkstatt in der Fischerfeldstraße 13 auf seine Auswanderung vor. Er hatte dann das große Glück, bei einer Verlosung eine Überfahrt nach Australien zu gewinnen, zusammen mit einem jüdischen Mädchen. Die jüdische Gemeinde in Brisbane/Australien hatte Geld gesammelt, um einem jüdischen Mädchen und einem jüdischen Jungen die Ausreise und ihre Unterkunft zu ermöglichen. Laut Nora fragte sich der Vater Israel: “Where is Australia, it must be at the end of the world.“ Aber er hielt Australien für ein Land, das ein gutes Leben versprach. Leopold landete am 13. September 1938 mit der SS „Ormonde“ der Orient-Linie in Brisbane. Er war 17 Jahre alt. Er hatte die Anlernwerkstatt, bei der er zum Techniker ausgebildet wurde, am 11. Juli 1938 verlassen, ohne die Lehrzeit zu beenden.
Auf dem Einreiseformular gab er als Nationalität an „German (now stateless)“. In Brisbane fing er sofort an, als Dreher und später als Mechaniker zu arbeiten.

Noras Vater Israel

In Frankfurt spielte sich eine Tragödie ab, als Israel Bergmann Mitte Juni 1938 frühmorgens von der Kriminalpolizei Frankfurt verhaftet wurde und zusammen mit anderen aus der Nachbarschaft in Buchenwald verschwand, Nora und ihre Mutter waren wochenlang ahnungslos über seinen Aufenthalt. Als er psychisch gebrochen nach drei Monaten zurückkam, erklärte er, er müsse als Staatenloser innerhalb 24 Stunden Deutschland verlassen. Am nächsten Tag emigrierte er nach Frankreich, zunächst nach Nizza.
Warum wurde Israel Bergmann am 14. 6. 1938 von der Kripo Frankfurt in Schutzhaft genommen und am 14. 9. 1938 entlassen? Es handelte sich dabei um die „Juni-Aktion“ mit dem Namen „Arbeitsscheu Reich“ gegen als „asozial“ eingestufte Personen, bei der mehr als 10.000 Menschen verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt wurden, wobei es zu gezielten Massenverhaftungen von Juden kam.

Dann begann die sogenannte „Polenaktion“ Ende Oktober 1938, bei der mindestens 17.000 aus Polen eingewanderte Juden überraschend und gewaltsam nach Polen abgeschoben wurden, darunter auch Noras Großeltern Marcus und Malka Mandel aus Fürth und deren Kinder Rosel, Jean und Leo mit seiner Frau Bertha und Sohn Jakob. In Polen angekommen, rief Marcus Mandel seine in England lebende Tochter Bertel an, die ihre Eltern und ihre Schwester Rosel nach England holte. Jean schlug sich in Lemberg und Russland durch, bis er 1945 nach Nürnberg zurückkam und unter anderem die dortige Jüdische Gemeinde wieder aufbaute (siehe Wikipedia unter Jean Mandel). Leo und seine Familie wurden ermordet (siehe FürthWiki unter Leo Mandel).

Das Novemberpogrom

Nora und ihre Mutter waren aufgelöst, sie wussten nicht, was vor sich ging, und die Mutter bat ihre Schwägerin Bertel in England mehrfach um Rettung ihrer Tochter Nora.
Wahrscheinlich aus finanziellen Gründen mieteten sich die beiden eine Zweizimmerwohnung in der Kämmereistraße 1, in der auch Rosel Federmann lebte, mit der Nora nun sehr befreundet war.
Nora beschreibt genau, wie sich die Lage für Juden änderte: Die Lebensbedingungen für Juden verschlechterten sich, die Essensrationen wurden kleiner, Juden mussten Schlange stehen beim Einkaufen zu bestimmten Zeiten.
Über das Novemberpogrom schreibt Nora:
„On Kristallnacht the 10th November 1938, my mother sent me shopping on my own. On the way back I saw a big crowd outside the Shule (Synagoge) – shouting – laughing – and yelling out: ‚The Shule is on fire.‘ They were throwing the Sefer Tora in the air and having a great time breaking windows and destroying all they could get hold of.“
Zuhause angekommen, hörten ihre Mutter und sie, wie Fensterscheiben eingeworfen wurden und die Rufe „Juden raus!” ertönten. Den jüdischen Bewohnern im Erdgeschoss wurde alles zerstört, die nicht jüdischen Bewohner im ersten Stock retteten Nora und ihre Mutter vor den Nazi-Horden, die im Ergeschoss alles kurz und klein geschlagen hatten, indem sie schrien: „Hier gibt es keine Juden mehr. Haut ab!“ Aber aus Angst blieben sie noch lange unter dem Tisch versteckt sitzen. Nora schreibt: „When all was quiet we went downstairs and saw the windows smashed everywhere – homes ransacked – furniture broken up – people screaming not really knowing what was happening.“

Kindertransport

Endlich 1939, Noras Klasse war inzwischen mit Klassen der Samson-Raphael-Hirsch-Schule zusammengelegt worden, schickten Onkel und Tante Harry und Bertel Preger aus England ihr ein Visum. Leider wussten Nora und ihre Mutter damals nicht, dass Esther Gustel mit demselben Visum noch aus Deutschland hätte herauskommen können.
Ihre Mutter packte in einen großen Schrankkoffer Silber, Kristallgläser und Kerzenhalter und vieles mehr. Nora durfte mit einem der letzten Kindertransporte Anfang Juli 1939 Frankfurt verlassen.

Ihr Abschied von der Mutter war bewegend:
„My mother took me to the station, Hauptbahnhof Frankfurt. I can still see myself standing there – saying good-bye to my dear mother. I feel blessed that G‘D constantly helped and guided me but I will never forget the feeling and heartbreak and the clinging together with my dear mother for the last time. At the age of thirteen I boarded the train and never felt so alone. Then came the final inspection of our documents by the ‚SS‘-men whose menacing look left no doubt in our minds as to what they would have liked to do to us.
After crossing the Dutch border the kind smiling ticket collectors who came into the compartment ensured that nothing would happen to us from then on. It was all behind us – we were free!“
Nora sah ihre Mutter nie mehr wieder.

Schicksale der Familie

Esther Gustel Bergmann musste in die Ostendstraße 1 umziehen, von wo sie am 11.11.1941 mit 43 Jahren in das Vernichtungslager Minsk deportiert und dort ermordet wurde.
So steht es auf ihrem Stolperstein.
Noras Vater Israel Bergmann, der im September 1938 nach Frankreich emigrierte, wohin sein Vater Jakob Bergmann im Herbst 1933 und seine Brüder Osias 1938 und Michel ebenfalls geflohen waren, lebte in Nizza, Villa Lobelia, Villeneuve und Castillones, bevor er am 26. August 1942 in das Lager von Casseneuil überstellt und von dort am 3. September 1942 in das Internierungslager Drancy verlegt wurde. Von dort aus wurde er am 9. September in einen Güterzug Richtung Auschwitz verfrachtet. Ob er in Kosel wie einige andere als Arbeitskraft für Oberschlesien aus dem Zug geholt wurde, ist unbekannt. Osias wurde am 14. September 1942 von Drançy aus nach Auschwitz deportiert und fand dort den Tod. Michel Bergmann überlebte in St. Dié und stellte nach dem Krieg Entschädigungsansprüche. Jakob Bergmann wurde am 24. Februar 1943 im Alter von 78 Jahren nach Drancy und von dort am 2. März in das Vernichtungslager Majdanek verschleppt. Er wurde zum 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Nora in England

Mit den anderen mitausreisenden Kindern bestieg Nora dann das Schiff, das sie nach Harrow brachte, und dann den Zug zum Londoner Bahnhof Liverpool Station, wo die Kinder auf ihre Familien verteilt wurden. Nora, die kein Wort Englisch sprach oder verstand, wurde nach Manchester weitergeschickt, wo ihre Großeltern Mandel und Onkel und Tante Harry und Bertel Preger lebten. Anders als andere hatte sie das große Glück, bei Verwandten Unterschlupf zu finden.
Kurz danach begann der Krieg, und Noras neue Schule, die „Senior Girls‘ School“ in der Leicester Road, die sie ab 28. Juli 1939 besuchte, wurde in die Küstenstadt Fleetwood evakuiert. Zusammen mit einem jiddisch sprechenden Mädchen aus ihrer Klasse, welch Glück für Nora, die kein Englisch sprach, kam sie als Gast in eine nicht jüdische Familie, die beide gut behandelte und Nora zum Beispiel Strandschuhe kaufte oder ihnen an den beiden hohen jüdischen Feiertagen, Rosh Hashana und Yom Kippur, an denen sie tagsüber fasten mussten, nach Sonnenuntergang ein schönes Abendessen kochte.
Die Schule lief weiter und Nora lernte Englisch.
Nach einigen Monaten baten die Großeltern Mandel sie, nach Manchester zurückzukommen und bei den Pregers zu wohnen, worüber sie nicht glücklich war. Jedoch spielte sie gerne mit den Kusinen ihres Alters dort und auch ihre Tante Rosel, mit der sie ein Bett teilte, war ihr ein Trost. Rosel häkelte ihr ein grau-braunes Kleid, das sie danach immer trug. Rosel musste im Gemüseladen der Pregers ihren Unterhalt abarbeiten.
Eines Tages, müde von der ganzen Arbeit, reiste sie in die USA aus, ihre Schwester Myrna in den USA hatte ihr das Visum besorgt.
Zum Bombenkrieg der Deutschen vermerkt Nora:
„The bombing became very intense and we slept downstairs on the floor in the breakfast room. Sirens would wail every night and bombs were falling all around us. I used to cry myself off to sleep every night.“
Sie ging nun wieder in ihre alte Schule, ihr Niveau war mindestens ein Jahr unter dem ihrer gleichaltrigen Klassenkameradinnen, ihr Englisch war immer noch holprig, so dass sie von ihrem Lehrer mit einem Buch den ganzen Tag lang in die letzte Reihe gesetzt wurde. In ihrer Not schrieb sie Geschichten aus dem Buch ab, um ihr Englisch zu verbessern.
Nora verließ die Schule am 20. Dezember 1940, wie aus den Schulakten hervorgeht. Sie hat zeitlebens bedauert, dass sie durch die Umstände keine höhere Schulbildung erhalten konnte. Dabei waren ihre Leistungen zum Schluss sehr gut. Nora hat ihr Entlassungsdokument, kein Zeugnis, datiert auf den 13. Dezember 1940, bis heute aufbewahrt. Darin wird ihr ehrlicher, vertrauenswürdiger Charakter und ihre glänzenden Fortschritte in Lesen, Hauswirtschaft, Handarbeit und anderen Fächern gelobt. In einem Brief vom 18. Mai 1962 bescheinigt ihr die Schule: „According to Mr. Byrne who is now teaching at the Boys‘ School, you reached the top division before you left.“

Noras Lehre als Modistin

Nora wohnte bei ihren Großeltern und half in der Pension mit, morgens und abends die Gäste zu bedienen.
Aber Nora wollte ihr eigenes Geld verdienen, von den Großeltern bekam sie nur wenig Taschengeld.
Sie begann eine Lehre als Modistin (Hutmacherin) in einem exklusiven Hutgeschäft in Manchester, „Rodella“, wo sie in der Woche 10 Schillinge erhielt, zu ihrer größten Zufriedenheit. Nun konnte sie sich unabhängig fühlen und neue Kleidung kaufen. Trotzdem, aus Dankbarkeit und Verantwortungsgefühl, putzte sie jeden Sonntagmorgen das Haus der Großeltern, Sonntagnachmittags ging ihre Freundin Margo mit anderen zum Rudern. Mit Margo und deren Eltern verbrachte sie viele Stunden, oft nahm sie ihre reizende kleine Kusine Anita mit.
Über ihre Lehrzeit schreibt Nora:
„I worked for ‚Rodella‘ for two years and learnt quite a lot about millinery. Learning to make hats and attending to customers was most enjoyable.“
Während der Kriegszeit hatte sie über das Rote Kreuz nur einen Brief ihrer Mutter aus Frankfurt erhalten. Der undatiert überlieferte Brief dürfte von 1941 sein, da die Mutter nach Noras Befinden im Geschäft fragt. Auch bittet sie um ein Foto von Nora und auch von Poldi (Leopold in Australien, der vielleicht mit Nora in Kontakt war, wie sie glaubte). Man spürt den herzzerreißenden Schmerz der Mutter.

Nora erhielt 1942 auch einen niederschmetternden Brief ihres Vaters Israel. Es war sein letzter. Er schrieb: „They are picking me up.“ Er wurde in das Sammellager Drancy deportiert und von dort am 9. September in das Vernichtungslager Auschwitz. Nora war so außer sich vor Schmerz, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat und den Brief zerriss.

Als Nora 17 wurde und zwei Jahre Lehrzeit hinter sich hatte,1943, fasste sie den Entschluss, nach London zu ziehen.
Sie arbeitete zunächst als Babysitterin bei einer freundlichen jüdischen Familie, danach fand sie einen Job als „Junior Girl“ in der Bond Street in einem exklusiven Hutgeschäft. Drei Jahre lang trug sie dort per Taxi Hüte für die Damen der Londoner Gesellschaft aus, bevor sie 1946 nach Manchester zurückkehrte.
Sie wohnte wieder bei ihren Großeltern Marcus und Malka Mandel in der Wellington Street 88, Salford. Zudem bekam sie ihr alte Stelle bei „Rodella“ zurück.

Nach Kriegsende

Erst als der Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende war, wurde Nora bewusst, dass sie ihre Eltern nie mehr wiedersehen würde.
Sie hatte die Kriegszeit emotional nur überlebt, weil in ihren jungen Jahren ihre Tanten Rosel und Myrna und ihr Onkel Jean so viel Einfluss auf sie ausgeübt hatten.
„My struggle to survive and surmount my difficulties was no doubt enhanced because of my age. Everything I had been through was in complete contrast to my ideal as a child but this is what has developed my character and made the person I am today still taking nothing for granted.“

Nach dem Sieg über Hitler-Deurschland kamen laut Nora viele Überlebende der Konzentratioslager nach Manchester, darunter auch junge Menschen ihres Alters, mit denen sie altersgemäße Vergnügungen unternahm, was ihre orthodoxen Großeltern nicht gerne sahen, sollte sie doch einen sehr frommen jüdischen Jungen heiraten.
Aus den USA reisten Rosel, Hermann und Myrna an, um ihre Eltern wiederzusehen. Nora erfuhr die Wahrheit über die Vernichtungslager. Ihre Großeltern Mandel hatten zwei ihrer Kinder, Esther Gustel und Leo mit Frau und Sohn verloren.
Gerne hätten ihre Tanten sie mit in die USA genommen, aber Nora zog es zu ihrem Bruder nach Australien. Sie hatte ihn zehn Jahre lang nicht gesehen.

Nora wandert nach Brisbane aus

Am 19. März 1948 erhielt die bis dahin staatenlose Nora ihren englischen Pass, mit dem sie noch ihre beiden überlebenden Onkel, wohl zwei Brüder ihres Vaters, in Frankreich besuchte, bevor sie am 17. Dezember 1948 in London allein das Passagierschiff RMS „Ormonde“ nach Brisbane/Australien bestieg. Niemand winkte ihr zum Abschied.
In ihrer Kabine freundete sie sich mit Vera, auch eine Auswandererin, an, mit der sie die sechswöchige Seefahrt gut durchhielt. Die ganze Überfahrt kostete sie als Immigrantin nur 10 englische Pfund.
Am 29. Januar 1949 betrat Nora australischen Boden, am Tag, an dem ihr Neffe Raymond John Bergman geboren wurde, der Sohn ihres Bruders Leopold und dessen Frau Betty.

Leo und dessen Nichte Judith Solo holten sie in Pinkenba (Hafenvorort von Brisbane) vom Schiff ab und nahmen sie sofort mit zur Feier von Raymonds Geburt, wo Nora gleich Bettys gesamte Familie und Freunde kennenlernte. Estelle Bergmann, das Töchterchen, war gerade zwei Jahre alt. Nora fühlte sich überall willkommen geheißen und war glücklich.
Schnell fand sie eine Stelle als Modistin und wurde von Judith und Doreen Solo in den Maccabi Sportverein eingeführt. Dort traf sie eines Tages in der Tennis-Abteilung Neville Frankel. Beim nächsten Mal traf sie dort Philip Frankel, den zweiten der vier Brüder Fankel: Keith, Neville, Philip und Walter. Sie nahm gleich darauf Tennisunterricht, ohne dabei zu glänzen. Stattdessen trat sie der Gymnastik-Abteilung bei und ihr Team sowie das Tennis-Team mit Philip und Walter Frankel fuhren öfter zusammen zu Maccabi-Sportfesten.
Nach einer schönen Urlaubsreise nach Sydney mit Philips Eltern Alan und Ida Frankel verlobten sich Nora und Philip und heirateten am 27. Juni 1951 in der Synagoge von Brisbane. Ihre Schwiegereltern bereiteten ihr eine unvergesslich schöne Hochzeitsfeier.
Philip Frankel war Buchhalter, Nora fertigte zuhause Hüte an.

Nora brachte drei Kinder zur Welt: 1953 Kenneth Ian, 1955 Gary Ernest und 1956 Robyn Elizabeth.
Alle drei heirateten: Ian 1980, Gary 1983 und Robyn Elizabeth 1979.
Nora freut sich über sechs Enkelkinder.
Ab 1961 lebten sie in ihrem eigenen Haus in Brisbane in der Cavendish Road.

Am Ende ihrer Aufzeichnungen sinnt Nora über ihre Auswanderung nach Australien nach. Dieser Schritt war ihr eine große Hilfe und eröffnete ihr ein ganz neues Leben. Auch war sie nun sicher, dass sie ihren Großeltern in England eine große Freude und Stütze gewesen war, denn nach ihrer Abreise wanderten diese zu ihren Töchtern Rosel und Myrna und ihren Enkelkindern nach New York aus, wo sie noch einen guten Lebensabend verbringen durften.
Noras Ehemann starb am 3. Juni 2010 in Sydney.

Im Jahre 2012 nahm Noras Nichte Estelle Dzienciol die Einladung der Stadt Frankfurt an und besuchte die alte Heimat ihrer Tante Nora.
Elf Jahre später wurden ihre beiden Söhne, Ian und Gary, ebenfalls von der Stadt eingeladen und besuchten das Haus Uhlandstraße 38, in dem ihre Mutter mit den Eltern und Leopold gelebt hatten. Sie waren bewegt von den Stolpersteine vor dem Haus, die von Leopolds Tochter Estelle Dzienciol und dem Hausbesitzer Jürgen Karcher gestiftet worden waren.
Auch gingen sie Noras Schulweg ab bis zu der Stelle, wo Noras alte Schule einst stand.
Ian, Gary und dessen Sohn Laivi Frankel folgten der Einladung in die Georg-August-Zinn-Schule, wo sie auf sehr interessierte und sehr gut vorbereitete Schülerinnen und Schüler mit überwiegend migrantischer Herkunft trafen und lebhaft diskutierten. Sie wurden begleitet von Franziska Reinhuber, deren Mutter Elisabeth ebenfalls vor dem Krieg mit dem Kindertransport nach England gerettet wurde.