KURZBIOGRAPHIE
Lilian Levy, geb Dreifuss, adoptierte Davidson
geb. am 14. August 1939 in London
Teilnahme am Besuchsprogramm 2017 zusammen mit ihrem Sohn Andrew Levy
- lebte mit ihren Eltern, Dolf und Hedy Dreifuss bis 1943 in Amsterdam/NL
- überlebt Bergen-Belsen
- Emigration nach England/UK 1946
- lebt seit 1946 in London
- Geschäftsfrau
Familie:
- Heirat (1961) mit Herbert Levy
- geb.am 28.Juli 1929 in Berlin
- Geschäftsmann
- gest. am 7. Januar 2015 in London
Sohn
Andrew Levy
geb. am 25. März 1964 in London
lebt und arbeitet in London
Universitätsdozent (Jura)
Tochter
Hilary Solomon, geb. Levy
geb. am 6. April 1967 in London
Schulleitungsmitglied (assistant headteacher)
lebt mit Ehemann Mike (Jg. 1967) und den Kindern Rosie (1996) und Zack (1999) in London
Eltern
- Adolf/ Dolf Dreifuss
geb. am 29. Juni 1906 in Frankfurt am Main
gest. am 24. Dezember 1944 in Bergen-Belsen
Geschäftsmann - Hedwig/Hedy Dreifuss, geb. Allerhand
geb. am 5. August 1905 in Wien
gest. am 26. Januar 1945 in Bergen-Belsen
Modistin (selbstständige Hutmacherin)
Verfolgung
- 1938: Internierung von Dolf Dreifuss in Dachau im Zuge des Novemberpogroms
- 1938/39: nach der Freilassung zunächst Flucht nach London
- 1939: Umzug nach Amsterdam/ NL
- 1942: nach deutscher Okkupation Versteck
- 1943: Haft in Amsterdam 1.5. bis 1.8.1943
- 1.8.1943 bis 10. Januar 1944: Internierung im Lager Westerbork
- 11. Januar 1944 Deportation nach Bergen-Belsen
Großeltern
Julius Dreifuss
- geb. am 29. Mai 1870 in Bad Kreuznach
- Fabrikant
- gest. am 1. Dezember 1942 in Theresienstadt
Anna Dreifuss, geb. Kaan
- geb. am 13. August 1883 in Gießen
- April 1940: Flucht der Eheleute nach Bereldingen/Luxemburg
- 30. Juli 1942: Verhaftung und Deportation nach Theresienstadt
- 29. Januar 1943: Anna Dreifuss wird von dort nach Auschwitz deportiert und ermordet
Julius Jonathan Allerhand
geb. am 7. März 1865 in Hanau
Kaufmann
gest. am 15. Mai 1925 in Frankfurt am Main
Grab: Jüdischer Friedhof Rat-Beil-Straße
Rosa Allerhand
geb. Jenner am 19. Oktober 1870 in Wien (eigene Angabe) / Krakau (lt. Akte)
Pianistin, Klavierlehrerin, Modistin
23. September 1942: deportiert nach Treblinka
für tot erklärt mit Wirkung zum 8. Mai 1945
Familie im Ersten Weltkrieg von Wien/Österreich
in die NL emigriert, von dort
nach dem Krieg nach Frankfurt am Main
Weitere Verwandte:
Schwester der Mutter Lilians: Alice Deutsch, geb. Allerhand
geb. am 26. April 1896 in Wien
gest. am 30. Januar 1981 in London
emigriert in die UK 1938
Großonkel, Bruder von Julius Dreifuss:
Rudolph Dreifuss
- geb. 16. Februar 1872 in Bad Kreuznach
- Fabrikant
- gest. am 17. März 1948 in Los Angeles/USA
- Emigration in die USA im Januar 1940, zusammen mit seiner Frau
Rosa (Rose)
geb. Strauss,
geb.am 12. Juni 1888
deren Sohn: Arthur Dreifuss, geb.am 25. März 1908
- Adoptiveltern von Lilian Levy: Dr. Henry Davidson (vorm. Heinz Davidsohn)
geb. am 8. April 1884 in Straßburg (lt. Akte)/Bromberg (laut Familie)
Kinderarzt
gest. am 30. November 1963 in London und Frieda Davidson, geb. Heller
geb. am 14. August 1886 in Berlin
gest. am 4. Februar 1972 in London
Emigration der Eheleute nach London 1933
Firmen:
- Fa. B. Bohrmann, Nachfolger
Inhaberkonsortium, darunter Julius und Rudolf Dreifuss
Sandweg 21 und Baumweg 6 in Frankfurt
Übernahme der Firma am 17. Juni 1939 durch Leo Otterbeek/Amsterdam, NL
(Übernahme-Genehmigung durch RP 22.12.1938),
Geschäftsabmeldung durch L.O. 1946 - Hutatelier Rosa und Hedy Allerhand
Kronberger Str. 6 in Frankfurt
Wohnungen in Frankfurt:
- Julius und Anna Dreifuss: Eschersheimer Landstr. 69
- Dolf und Hedy Dreifuss: Eschersheimer Landstr. 69
- Rosa Allerhand: Eschersheimer Landstr. 152, Kronberger Str.6, zuletzt Jüdisches Altersheim, Zeil 92
- Rudolph und Rose Dreifuss: Schumannstr. 45
Quellen:
- Briefe von Yehoshua Birnbaum an Alice Deutsch (Privatbesitz Lilian Levy)
- Boykott-Broschüre der Nazis von 1935, Eine Antwort auf die Greuel- und Boykotthetze der Juden im Ausland, Frankfurt am Main, März 1935, 2. Auflage
- Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW)
- Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
- Jüdisches Museum Frankfurt, Datenbank „Deportierte Juden aus Frankfurt am Main“, Gedenkstätte Neuer Börneplatz und Bibliothek des Jüdischen Museums
- Jüdische Gemeinde Frankfurt – Verwaltung der jüdischen Friedhöfe in Frankfurt
- Lilian Levy, Familien-Erinnerungen (im Gespräch mit Till Lieberz-Groß)
- Herbert Levy, Voices from the past, Lewes 1995
- Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt (PJLF): PJLF-Fragebogen: Lilian Levy und Andrew Levy 2017
- Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt (PJLF): Tonaufzeichnung: Lilian Levy und Andrew Levy in der Anne-Frank-Schule am 15. Mai 2017 (Moderation Till Lieberz-Groß)
- Tonaufzeichnung: Andrew Levy, Abschiedsrede im Römer, 15. Mai 2017 (Tonaufnahme)
Fotos:
Lilian Levy, Michael Maynard, Rafael Herlich, Till Lieberz-Groß
Recherche und Text:
Till Lieberz-Groß
Erschienen:
2018
Lilian Levy, geb. Dreifuss, und Andrew Levy
I am from somewhere now
Von Till Lieberz-Groß
Der kleinen Lilian, 1939 kurz vor Beginn des II. Weltkrieges geboren, ist nur wenig Zeit mit ihren Eltern, Hedy und Dolf Dreifuss, vergönnt. Die Zuflucht in den Niederlanden erweist sich als nicht sicher: Lilian wird mit ihren Eltern 1943 von den Nazis verhaftet und nach einer Internierung im Lager Westerbork 1944 nach Bergen-Belsen deportiert. Ihr Vater Dolf stirbt dort Ende 1944, die Mutter Hedy im Januar 1945. Lilian überlebt schwer krank und wird 1946 nach einem Aufenthalt in einem Waisenheim in den Niederlanden in die UK gebracht und dort von Frieda und Dr. Henry Davidson adoptiert.
Lilian und ihr Sohn Andrew sind Teilnehmer des Besuchsprogramms der Stadt Frankfurt 2017.
Junges Glück in Frankfurt
Sie waren ein schönes Paar: Lilians Eltern Hedy Dreifuss, geb. Allerhand, geb. 1905 in Wien und Adolf/Dolf Dreifuss, geb.1906 in Frankfurt am Main, jung, voller Lebenslust und Zukunftsplänen.
Dolf arbeitet als Kaufmann in der Firma von Vater und Onkel, der Silberwaren-Fabrik „B. Bohrmann Nachfolger“ in Frankfurt. Hedy ist als gelernte Modistin stolze Besitzerin eines feschen Hutsalons in Frankfurt.
Noch 1937 zeigt ein Foto das Paar unbeschwert fröhlich. Doch der Optimismus des jungen Glücks wird mit dem Novemberpogrom 1938 endgültig zerstört. Dolf wird wie viele jüdische Männer im Zuge des Novemberpogroms verhaftet; er wird im Lager Dachau interniert. Dies war sicherlich der letzte Anstoß, Deutschland möglichst umgehend zu verlassen.
Dolf und Hedy flüchten um die Jahreswende 1938/39 zunächst nach England/UK, wo schon Hedys Schwester Alice Deutsch seit 1938 mit ihrem Mann in der Nähe von London lebt, und planen 1939 die Emigration in die Niederlande.
Dolf Dreifuss kommt aus einer gut situierten Familie, Besitzer der Frankfurter Fabrik für versilbertes Tafelgerät, der Firma „B. Bohrmann Nachfolger“. Seine Eltern leben – wie auch später das junge Paar – in der Eschersheimer Landstr. 69. Dolf genießt eine höhere Schulbildung, bevor er als kaufmännischer Angestellter in das Geschäft von Vater und Onkel eintritt – mit der Aussicht auf künftige Teilhaberschaft an der Firma.
Auch Hedy kommt aus dem Mittelstand; geboren in Wien, zieht sie später mit ihrer Familie nach Frankfurt am Main um.
Beschleunigt haben mag die Aufgabe ihres Hutateliers, in dem sie zusammen mit ihrer Mutter Rosa in der Kronberger Str. 6 arbeitete, die diffamierende Nennung im Frankfurter Nazi-„Boykottbuch“ (hier ein Ausschnitt aus der Auflage von 1935: Der Herausgeber begründet die Veröffentlichung der Broschüre aus Nazi-Sicht schon im Titel: „Eine Antwort auf die Greuel- und Boykotthetze der Juden im Ausland“).
Niederlande via UK
Die Beschäftigungssituation in England/UK verhindert, dass Dolf dort Arbeit findet. Dolf geht deshalb 1939 zunächst alleine in die Niederlande, wo er bis 1942 als Reisender bei der Fa. Hollandia Plate arbeitet, einer holländischen Partnerfirma für Silberwaren.
Hedy bleibt zunächst bei ihrer Schwester in London, zieht aber im Laufe des Jahres 1939 zu ihrem Mann. Für kurze Zeit lebt die Familie bei dem Besitzer der Hollandia Plate, Leo Otterbeek, bevor sie in eine eigene Wohnung in der Amsterdamer Courbetstraat 20 umzieht.
Leo Otterbeek ist zu diesem Zeitpunkt bereits Inhaber des früheren Familiengeschäfts, „B. Bohrmann Nachfolger“ in Frankfurt. Im Juni 1939 übernimmt er die Firma mit Übernahmegenehmigung des Regierungspräsidiums Wiesbaden vom 22.12.1938 offiziell und führt die Firma bis zur Auflösung 1946 ab 1941 unter dem Namen Leo Otterbeek.
Im Sommer 1939 reist Hedy wieder nach London und bringt dort am 14. August 1939 ihre Tochter Lilian zur Welt. Keine drei Wochen später bricht der Zweite Weltkrieg aus. Hedy kehrt mit Lilian zu ihrem geliebten Mann nach Holland zurück.
Die Okkupation der Niederlande 1940
Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande 1940 ändert sich die Lage für viele Flüchtlinge dramatisch, so auch für die junge Familie Dreifuss. Die Hoffnung, dass die Niederlande wie im I. Weltkrieg neutral bleiben könnten, zerschlägt sich. Die Familie muss sich wie viele andere Flüchtlinge verstecken.
Lilian wird laut Aussage von Leo Otterbeek bei seinem Schwager untergebracht; die Eltern finden getrennt von der Tochter ein Versteck bei einem Bauern in der Nähe von Hilversum. Eine verzweifelte Situation für die jungen Eltern. Und dazu kommt noch die Sorge um die in Deutschland verbliebenen Familienangehörigen.
Im Versteck in Hilversum hätten sie möglicherweise eine Chance zum Überleben gehabt. Aber eine Radio-Meldung der deutschen Besatzer Anfang 1943 lässt sie hoffen, nach England ausreisen zu können: Sie melden sich nach dem Aufruf, der suggeriert, dass britische Staatsbürger die Niederlande im Austausch ungehindert verlassen können. Für die Familie eines in England/UK geborenen und damit britischen Kindes hätte dieses Angebot das rettende Exil bedeutet. Und vor allem: das Ende der Trennung vom geliebten Kind.
Doch der Aufruf ist eine verhängnisvolle Falle, wie sich herausstellt. Frau Seligmann, eine Freundin der Familie aus Frankfurter Tagen, erinnert sich: „Als ich am ersten Mai 1943 zu ihnen in die Wohnung kam, war ich Zeuge, wie vier Gestapobeamte Herrn und Frau Dreifuss und ihre vierjährige Tochter Lilian verhafteten.“
Deportation nach Bergen-Belsen und Tod der Eltern
Die Familie wird nach wenigen Monaten (im August 1943) aus der Haft in das Internierungslager Westerbork überstellt und Anfang 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert.
Von dort sendet Hedy zunächst noch tapfer optimistische Lebenszeichen an ihre Schwester nach London. Doch die Bedingungen in Bergen-Belsen sind unbeschreiblich: Eine Tagesration besteht aus einer wässrigen Rüben-Suppe und einem kleinen Stück Schwarzbrot. Krankheiten wie Typhus breiten sich rasend schnell aus, noch verstärkt durch die Angst der Internierten zu duschen, denn mittlerweile hatte sich die tödliche Funktion von Duschen in den Vernichtungslagern herumgesprochen. Und mit 6 bis 10 Personen in einer Schlafkoje und zuletzt 60 000 Menschen ist das Lager hoffnungslos überfüllt.
Dolf Dreifuss stirbt bereits am 24. Dezember 1944, seine Frau Hedy stirbt nur wenig später am 26. Januar 1945. Beide sterben an Hunger, Erschöpfung und nicht behandelter Krankheit. Beide versuchen bis zuletzt, wenigstens ihre kleine Tochter zu retten, indem sie ihr ihre eigenen Rationen zukommen lassen. Kurz vor seinem Tode wendet sich der Vater noch an den mitinhaftierten Yehoshua Birnbaum mit der Bitte, sich um Lilian zu kümmern. Lilian überlebt unterernährt und schwer krank.
Der Beginn eines neuen Lebens für Lilian
Kurz vor Kriegsende versuchen die Nazis, ihre Gräuel zu vertuschen, indem sie die noch lebenden Bewohner von Bergen-Belsen mit einem Transport Richtung Osten schicken. Nur der Vormarsch der Roten Armee stoppt diesen Transport in Tröbitz. Lilian wird in einem dortigen Krankenhaus mühsam wieder ins Leben zurückgeholt. Yehoshua Birnbaum, der mit seiner gesamten Familie überlebt und später nach Israel auswandert, veranlasst, dass Lilian in ein Waisenhaus nach Laren in Holland gebracht wird.
Er nimmt auch Kontakt zu Lilians Tante Alice in London auf, die aber wegen einer schweren Krankheit ihres Mannes die dauerhafte Aufnahme von Lilian ablehnt. Lilian wird 1946 von Leo Otterbeek zur Tante nach London gebracht; wenig später, mit Wirkung zum 8. Juli 1946, wird sie vom Arzt-Ehepaar Dr. Henry und Frieda Davidson adoptiert.
Die Davidsons waren als deutsche Juden bereits 1933 nach England/ UK emigriert. Sie hatten eine Tochter, die 20 Jahre älter als Lilian war und das Haus bereits verlassen hatte. Weder Lilians Tante Alice noch ihre neue Familie sprechen mit dem verstörten Kind über das Erlebte: „Nein, nein, mein gutes Kind, kann ich Dir nicht erzählen“, hört Lilian von Tante Alice und auch ihre Adoptiveltern schweigen aus falsch verstandener Rücksichtnahme.
So bleibt Lilian allein mit ihren fragmentarischen Erinnerungen an die Eltern und das Leben im Konzentrationslager. „I didn’t know who I was… I didn’t belong to anybody, came from nowhere and was going into nowhere.“
Erst nach dem Tod ihrer Tante Alice kommt über nachgelassene Briefe von Yehoshua Birnbaum an die Tante Licht in das schmerzhafte Dunkel der Erinnerungen. Und erst 1981 kann Lilian die Familie Birnbaum mit ihrer eigenen Familie besuchen. Es stellt sich heraus, dass Yehoshua Birnbaum sich im Lager Bergen-Belsen um 50 Kinder, einschließlich seiner eigenen sechs Kinder, gekümmert hatte. Und doch kann er sich lebhaft an die kleine Lilian erinnern.
Lilians Adoptiv-Vater Davidson war Kinderarzt, Mutter Davidson Hausfrau. Da sie die jüdischen Traditionen nicht leben, bringt Tante Alice Lilian zu einer Synagoge in London, die von dem aus Frankfurt emigrierten Rabbiner Dr. Salzberger geleitet wird und die für viele deutsche Juden eine neue jüdische Heimat wird. Wie sich erst beim Besuch in Frankfurt herausstellt, lebte die Familie Salzberger in Frankfurt vor der Emigration im benachbarten Haus in der Eschersheimer Landstr. 67.
In der Synagoge in London findet Lilian ihre stabile Jugendgruppe – und schließlich auch ihren Mann, Herbert Levy, ein Kindertransportkind aus Berlin.
Sie schließt eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich ab. Lilian heiratet 1961 und wird Mutter von zwei Kindern, Andrew (1964) und Hilary (1967) und hat nun endlich das ersehnte glückliche Familienleben, weiß, wo sie hingehört.
Herbert Levy beschreibt in seinen Lebenserinnerungen „Voices from the past“ (1995) seine Familiengeschichte und seinen Werdegang. In seinem Leben war er in vielfältiger Weise dem Theater verbunden, auch wenn er den Unterhalt für die Familie als Textilkaufmann bestritt. Nach seinem Berufsabschied begleitete er ehrenamtlich die Wanderausstellung „Anne Frank“ durch das UK.
Die Großeltern Dreifuss und Allerhand
Julius und Anna Dreifuss, geb. Kaan
Dolfs Eltern lebten im Bäckerweg 17, dann in der Eschersheimer Landstr 69. In diesem Haus wohnte später auch das junge Paar, Hedy und Dolf, bis zu ihrer Flucht nach London/UK. Dolfs Mutter Anna wurde 1883 in Gießen geboren. Dolfs Vater Julius, geb. 1870 in Bad Kreuznach an der Nahe, betreibt zusammen mit seinem Bruder in Frankfurt eine Fabrik für versilberte Tafelgeräte für Hotels und Restaurants, aber auch private Haushalte, die Firma „B. Bohrmann Nachfolger“, Sandweg 21.
Rudolph Dreifuss, dem Bruder von Dolfs Vater, gelingt trotz großer Hindernisse noch die Emigration in die USA im Januar 1940; er stirbt dort bereits im März 1948. Auch Julius und Anna Dreifuss bemühen sich nach der Machtübernahme der Nazis um eine Ausreise; sie wollen nach Luxemburg emigrieren. Die Nazis zwingen Julius und Anna Dreifuss zu sehr hohen Abgaben: der Judenvermögensabgabe, Dego-Abgaben und Auswanderabgaben (sogenannte „Reichsfluchtsteuer“) – und halten sie hin.
Im April 1940 gelingt Dolfs Eltern zwar die Flucht nach Bereldingen, Gemeinde Walferdingen in Luxemburg, aber das Ehepaar ist auch in Luxemburg nicht sicher; am 30. Juli 1942 werden sie von dort nach Theresienstadt verschleppt. Der 72jährige Julius Dreifuss verstirbt dort bereits vier Monate später; Anna/ Anny Dreifuss wird am 29. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Julius Jonathan und Rosa Allerhand, geb. Jenner
Der gebürtige Hanauer Julius Jonathan Allerhand, geb. am 7. März 1865, heiratet die Wienerin Rosa Jenner, geb. am 19.10.1870 (in anderen Quellen wird ihr Geburtsort mit Krakau angegeben). Ihre beiden Töchter Alice und Hedwig/Hedy werden in Wien geboren. Während des 1. Weltkrieges verlässt die Familie auch aus ökonomischen Gründen Wien, um im (neutralen) Holland Zuflucht zu suchen; laut Familienerinnerungen arbeitete Rosa in Wien als Pianistin und Klavierlehrerin. Nach dem Krieg zieht die Familie aus den Niederlanden nach Frankfurt am Main.
Der Vater Julius Allerhand stirbt bereits 1925 in Frankfurt und ist auf dem Rat-Beil-Friedhof beerdigt. Rosa Allerhand war – wie später ihre Tochter Hedy – Modistin; mit Hinweis auf ihren Beruf wurde sie – wie ihre Tochter – 1934 und 1935 im „Boykottbuch“ der Nazis diffamierend erwähnt.
Rosa Allerhand wird im Adressbuch 1928 mit der Adresse Eschersheimer Landstr. 152 aufgeführt. Danach lebt sie offensichtlich mit ihrer Tochter Hedy in der Kronberger Str. 6, wo Hedy auch ihr Hut-Atelier hat. Später lebt sie im Jüdischen Altersheim, Zeil 92. (Das Grundstück ist heute mit dem Kaufhaus Karstadt bebaut). Zum Zeitpunkt ihrer Deportation nach Theresienstadt am 18. August 1942 ist sie Patientin im Israelitischen Krankenhaus in der Gagernstr. 36 (heute Senioren-Wohnanlage der Jüdischen Gemeinde Frankfurt). Von Theresienstadt wird Rosa Allerhand 71-jährig am 23. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Mit Wirkung zum 8. Mai 1945 wird sie für tot erklärt.
Die zweite Generation – Andrew Levy
Andrew Levy, geb. am 25. März 1964 in London, begleitet seine Mutter Lilian im Mai 2017 nach Frankfurt, der Geburtsstadt seiner Großeltern Hedy und Dolf Dreifuss.
Er entdeckt etwa zehnjährig, dass die Familiengeschichte seiner Mutter nicht stimmig ist: Seine Großmutter Frieda Davidson, die bis zu ihrem Lebensende von seiner Mutter Lilian gepflegt wird, ist offensichtlich nicht verwandt mit seiner Großtante Alice, Hedys Schwester. Aber seine Mutter Lilian ist emotional nicht in der Lage, seine Fragen zu beantworten. So überlässt sie ihrem Mann Herbert, dem Sohn die bekannten biografischen Fragmente darzulegen.
Erst sieben Jahre später können viele Leerstellen der Biografie gefüllt werden. Fast zeitgleich mit Lilian erfahren 1981 ihr Mann Herbert und ihre Kinder Andrew und Hilary über die nachgelassenen Briefe von Yehoshua Birnbaum an Tante Alice und später während der Reise nach Israel wichtige Details aus Lilians Lebensgeschichte.
Das zusätzlich traumatisierende Schweigen war nach dem Krieg nicht ungewöhnlich; Eltern und andere Erwachsene wollten ihre Kinder vor der schrecklichen Vergangenheit schützen und ließen sie doch allein mit ihren Erinnerungstrümmern.
Andrew sieht wie seine Mutter als seine jüdische Heimat die Synagoge in London, die zur Wirkungsstätte des aus Frankfurt stammenden Rabbiners Salzberger geworden war. Rabbi Salzberger war in Frankfurt als Bewohner der Eschersheimer Landstr. 67 Nachbar der Familien Dreifuss gewesen und hatte 1935 auch Lilians Eltern getraut.
Andrew spricht Hebräisch und ist noch stärker im religiösen Judentum verankert als seine Mutter. Seine jüdische Identität bedeutet ihm sehr viel: „I look at the world with Jewish eyes.“ Andrew arbeitet als Dozent für Recht an der Universität in London.
Wurzeln in Frankfurt
Die ehemalige Wohnadresse der Eltern Lilians und der Großeltern Dreifuss in der Eschersheimer Landstr. 69 ist in den 1950er Jahren durch einen Neubau ersetzt worden. Dennoch macht die Woche, die Andrew mit seiner Mutter auf Einladung der Stadt in Frankfurt verbringt, der Besuch am Grab von Julius Jonathan Allerhand, Lilians Großvater, auf dem Rat-Beil-Friedhof, der Besuch von ehemaligen Wohnorten von Großmutter Rosa Allerhand einen starken Eindruck auf die Besucher:
Die Begegnung mit und in Frankfurt „gives me a new feeling of roots in Frankfurt … I am from somewhere now“, sagt Lilian im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern in der Anne-Frank-Schule.
Die Schülerinnen und Schüler der 10. Klassen sind außerordentlich beeindruckt von Lilians Lebensgeschichte, die sie zum ersten Mal vor einer so großen Gruppe von Schülerinnen und Schülern preisgibt. Eine Schülerin bedankt sich ausdrücklich bei den Zeitzeugen Lilian und Andrew Levy aus England/UK und Yona und Tova aus Israel dafür, dass sie „so offen“ berichtet haben.
Das wiederum ermutigt einige junge Leute, über ihre eigenen Familiengeschichten zu sprechen – dies sind vor allem Geschichten von Migration, aber eine Schülerin erinnert auch an die KZ-Leidensgeschichte ihres Großvaters.
Andrew hält für die zweite Generation der Besucher 2017 im Römer eine vielbeachtete Abschiedsrede im Römer, 15. Mai 2017 (Tonaufnahme). Und er bekennt sich in Anlehnung an Kennedys Ausspruch in Berlin – und dies unisono mit den anderen Besuchsteilnehmern – als „Frankfurter“. Das bewegt und freut die Frankfurter und Frankfurterinnen.