KURZBIOGRAHIE

Menachem Hess
Geb. als Manfred Hess 1924 in Birstein
Gest. 2001 in Sde Elijahu in Israel

Beruf
Landwirt im Gemeinschaftskibbuz Sde Elijahu

Letzte Frankfurter Adresse
Obermainanlage 24

Schulbesuch
Volksschule Birstein
Raphael-Hirsch-Schule in Frankfurt
Hachshara zur landwirtlichen Ausbildung

Emigration
1939 nach Schweden, 1941 mit der Jugend-Alijah nach Palästina

Eltern
Julius und Emma Hess geb. Baum
Vater geb. 16.4.1885 in Birstein
Mutter geb. 24.10.1893 in Liesen an der Mosel
Deportiert am 11.11.1941 nach Minsk
In der Shoah ermordet – Todesdatum unbekannt

Bruder
Joachim
Geb. 1920 in Birstein
1939 mit Kindertransport nach England


Quellen:

Hessisches Hauptstaatsarchiv

Initiative Stolpersteine

Auskünfte und Fotos von Mitgliedern der Familie Hess

Texte und Recherchen:
Christa Fischer und Angelika Rieber

Erschienen:
2021

Manfred Hess

Flucht nach Schweden – Auf Umwegen nach Palästina

Von Christa Fischer

Der 1924 geborene Manfred Hess stammt aus einer seit Generationen in Birstein ansässigen Familie. Sein älterer Bruder Joachim wurde 1920 geboren.
Die Eltern Emma und Julius Hess verließen wegen Verfolgung und Boykottmaßnahmen 1934 Birstein und zogen nach Frankfurt.
Nach dem Novemberpogrom betrieb die Familie die Auswanderung aus Deutschland. Dies gelang jedoch nur für die Kinder. Joachim konnte nach England emigrieren, und Manfred kam über ein Ausbildungslager der Hachshara nach einem langen und mühsamen Weg nach Israel.
Die Eltern Emma und Julius wurden am 11.11.1941 nach Minsk deportiert und dort ermordet.

Von Birstein nach Frankfurt

Manfreds Vater Julius Hess wurde am 16.4.1885 als eines der Kinder des Kaufmanns Josef Hess in Birstein geboren. Seine Familie war dort seit Generationen ansässig.
Er war als Kaufmann und Vertreter für landwirtschaftliche Maschinen tätig und betrieb eine Eisenwarenhandlung in Birstein. Nach dem Ersten Weltkrieg heiratete Julius Hess Emma, geb. Baum, die von der Mosel kam.

Manfred (Menachem) Hess wurde am 24.11.1924 in Birstein geboren. Sein älterer Bruder Joachim kam 1920 ebenfalls in Birstein zur Welt.
Manfred besuchte die Volksschule, sein Bruder Joachim die Lateinschule. Diese weiterführende Schule musste er jedoch 1933 wieder verlassen, weil er jüdischer Herkunft war. Die antisemitische Stimmung nach dem Beginn der NS-Herrschaft begann die Familie schnell zu spüren, wie Joachim später berichtete: „Wegen der besonders starken Judenverfolgung in Birstein – es kam vor, dass ich des Öfteren verschlagen wurde“ – entschlossen sich die Eltern, mit beiden Söhnen Birstein zu verlassen und nach Frankfurt zu ziehen.

Dort hofften sie unbehelligter leben zu können und fanden in der Obermainanlage 24 ein neues Zuhause. Manfred besuchte die orthodoxe Samson-Raphael-Hirsch-Schule.

Joachim Hess begann eine Lehre bei der Firma Max Held, einer Firma für Futterstoffe am Bahnhofsplatz in Frankfurt am Main. Nach Abschluss der Lehre arbeitete er dort als kaufmännischer Angestellter.

Das Novemberpogrom 1938 beendete die Hoffnung auf ein Weiterleben in Deutschland.

Der 18jährige Joachim wurde verhaftet und als „Schutzhaftjude“ nach Dachau verschleppt, Julius Hess nach Buchenwald. Schwer misshandelt und mit zertrümmerter Nase kehrte Joachim Hess am 15. Dezember 1938 aus der KZ-Haft in Dachau zurück. Ein SS-Aufseher hatte mit einem Revolvergriff auf ihn eingeschlagen. Zeit seines Lebens litt er an den Folgen dieser Misshandlung.

Nun versuchten die Eltern verzweifelt eine Ausreisebewilligung für die Familie zu bekommen. Für Joachim gelang es ihnen, einen Platz in England zu bekommen. Er blieb in England und gründete eine Familie. 1993 starb Joachim Hess in Manchester im Alter von 73 Jahren.

Der 14jährige Manfred konnte in einem Hachshara-Lager im schwedischen Malmö untergebracht werden, das von einem schwedischen Hilfskomitee für verfolgte jüdische Jugendliche eingerichtet worden war. Eigentlich wollte Manfred lieber bei seiner Familie bleiben, aber die wachsenden Bedrohungen zwangen die Eltern zu diesem Schritt.

Die Eltern Julius und Emma Hess schafften die Ausreise nicht mehr. Sie wurden am 11.11.1941 nach Minsk deportiert, wo sie beide zu Tode kamen. Julius Hess verstarb im Februar 1942 an den körperlichen und seelischen Qualen im Ghetto, über Emma Hess sind die genauen Umstände und das Todesdatum nicht bekannt.

Eine Nachbarin schilderte in einem Brief an Manfred Hess in der Nachkriegszeit von dem herzzerreißenden Abschied von den Eltern im November 1941. „Es war das bisher Schwerste in meinem Leben, was mich treffen konnte, als Deine lieben Eltern und viele liebe Bekannte von uns gingen. Das ganze Haus leer, diese unheimliche Stille, alle Räume versiegelt.“ (zitiert in Stolpersteine 2010) Sie hielt Kontakt zu ihnen und schickte Ihnen Pakete ins Ghetto.

Die Lebensplanung und die Perspektiven von Manfred werden zunichte gemacht

Der 14jährige Manfred war ein guter und auch begeisterter Schüler. Nach dem Umzug nach Frankfurt besuchte er noch ein Jahr die jüdische Grundschule und wechselte dann, wie erwähnt, auf die Samson-Raphael-Hirsch-Schule, um hier seine Reifeprüfung zu machen und um später Ingenieur zu werden. Das war sein damaliger Berufswunsch.

Doch die Verhältnisse ließen dies nicht zu. Nach dem Novemberpogrom konnte Manfred keine Schule mehr besuchen. Anfang 1939 konnte er nach Schweden fliehen, um dort eine landwirtschaftliche Ausbildung zu beginnen. Damit hatte er die Möglichkeit, sich auf die Weiterreise nach Palästina vorzubereiten. Von Februar 1939 bis 1941 blieb er in Schweden.

Aufgrund der restriktiven Einwanderungsbestimmungen der Mandatsmacht England war es nur schwer möglich, ein Zertifikat für die Einreise nach Palästina zu erhalten. So bemühten sich verschiedene Organisationen, Kindern und Jugendlichen einen vorübergehenden Aufenthalt in einem Transitland wie Schweden, den Niederlanden oder der Schweiz zu ermöglichen. Die Jugendlichen wurden teilweise schon in Deutschland in gewerblichen Anlernwerkstätten oder landwirtschaftlichen Lehrgütern wie dem Ahrenshof oder dem Gehringshof bei Fulda auf die Auswanderung vorbereitet. Schweden nahm insgesamt etwa 500 Kinder auf, von denen allerdings die Mehrzahl in Schweden blieb.

Als Jugendlicher ein Neuanfang in Palästina

Manfred Hess gehörte zu denjenigen, die 1941 die Möglichkeit erhielten, mithilfe der Jugendalijah die Einreiseerlaubnis für Palästina zusammen mit einer Gruppe von Kindern zu erhalten. Der Weg nach Palästina war gefahrvoll und lang. Die direkten Wege waren meistens versperrt, so dass die Gruppe erst über viele Umwege ihr Ziel erreichte, mit dem Schiff nach Finnland, weiter mit dem Zug über Leningrad, Odessa, Istanbul nach Beirut und schließlich nach Palästina. Dort besuchte er noch ein Jahr lang eine landwirtschaftliche Schule in Mikwe Israel, bis er 1942 in den Kibbuz Sde Elijahu kam.

Die neue Heimat – Kibbuz Sde Elijahu

Der Kibbuz Sde Elijahu in der Nähe des Sees Genezareth ist ein religiöser Kibbuz. Diese Gemeinschaftssiedlung wurde am 8.5.1939 von jüdischen Flüchtlingen aus Nazideutschland gegründet. Benannt ist sie nach Rabbiner Elijahu Guttmacher, einem der frühen Führer des religiösen Zionismus im 19. Jahrhundert. Die Religiös Zionistische Bewegung verbindet die Idee des Zionismus mit dem orthodoxes Judentum.

Der Kibbuz produziert Datteln, Trauben, Granatäpfel, Gewürze, sowie Feldfrüchte, hält Milchvieh und Geflügel. Angebaut wird nach den Methoden des ökologischen Landbaus ohne Pestizide.

In dieser Gemeinschaftssiedlung fand Manfred Hess ab 1942 seine neue Heimat. Hier heiratete er 1945 (weißt du, wie die Frau hieß?) und die vier Kinder Yael, Avner, Yoav und Mira kamen hier zur Welt.

Manfred Hess fand seine Lebensgrundlage im Kibbuz und in seiner Familie. Seine Schwiegertochter Ora beschreibt ihn als einen offenen Menschen, der eine besondere Stärke darin zeigte, unterschiedlichen Ansichten miteinander zu verbinden und Probleme zu lösen. (Mail von Ora Hess an Christa Fischer) Außerdem zeichnete ihn sein Bildungshunger aus. Er las viel, besuchte Museen und ging gerne in Konzerte. Viele Jahre lang spielte er Flöte in einem kleinen lokalen Orchester.

Über seine Lebensgeschichte, seine Kindheit in Birstein und Frankfurt und über seine Ausbildung in der Hachshara und seinen Weg nach Israel hat Manfred Hess wie viele der Emigranten nicht gesprochen. Nur seine Frau erfuhr in Ansätzen davon, was es für ihn bedeutet hatte, sich allein in einer neuen Umgebung zurechtzufinden, immer in Sorge um seine Eltern, deren Leben er nicht mehr retten konnte.

Erst in seinem letzten Lebensjahr begann er ein wenig von seiner Lebensgeschichte zu erzählen. Manfred Hess starb plötzlich am 17. Februar 2001 in Sde Elijahu. So bleiben bei seinen Kindern und Enkeln viele Fragen offen, die sie ihm gerne noch gestellt hätten. Seine Kinder und Enkelkinder leben und arbeiten bis heute im Kibbuz.

Dankbar ist Ora Hess, dass sie mit den Stolpersteinen einen Beitrag zur Erinnerung an das Schicksal der Eltern ihres Schwiegervaters leisten konnte. Für die Eltern von Manfred Hess wurden 2010 in der Obermainanlage 24 zwei Stolpersteine gelegt. Kinder, Enkel und Schwiegertöchter kamen eigens zu der Verlegung nach Frankfurt.

Der Kreis schließt sich

Die Familienmitglieder nutzten die Reise nach Frankfurt auch zu einem Besuch in Birstein, dem Herkunftsort der Familie Hess. Dort wurden sie vom Bürgermeister empfangen, der die lange Lebensgrundlage der Familie Hess in Birstein ansprach und die besondere Stellung, die Julius Hess als Schatzmeister der Jüdischen Gemeinde einnahm:
„Bereits im Jahre 1934 haben die Eheleute Hess ihren Heimatort Birstein mit der gesamten Familie verlassen und zogen nach Frankfurt. Ihr Zuhause mussten sie aufgeben und daher bin ich heute sehr erfreut, dass wir Ihnen den Heimatort und Lebensmittelpunkt ihrer Vorfahren in herzlicher Gastfreundschaft zeigen können.“
Die Verbindungen, die durch den Besuch in Frankfurt und Birstein geschaffen wurden, haben für Ora eine große Bedeutung und lassen eine bessere Zukunft erhoffen: „The connection between past, present and future, hopefully, will ensure that events like those that happend in the Holocaust will not be repeated.“