KURZBIOGRAPHIE

 

Raymon Grossman
geb. 1945 in Chicago, Illinois
Teilnahme am Besuchsprogramm 2016

Mutter:
Trudel Grossman, geb. Adler
geb. 1912 in Frankfurt
emigrierte 1934 in die USA

Vater:
Leonard Grossman
geb. 1891 in Atlanta, Georgia (USA)

Schwestern der Mutter:

  • Lotte Adler
    geb. 1908 in Frankfurt
    emigrierte 1939 über England in die USA
    Lottes Tochter Mari Ann Schwartzenberg nahm 2015 Besuchsprogramm teil
  • Erna Adler
    geb. 1910 in Frankfurt
    emigrierte 1937 in die USA

Letzte Wohnung der Familie in Frankfurt:
Beethovenstr. 5


Quellen:

  • Blog Trudel‘s Truth: Briefe von Trudel Adler an ihre Familie in Deutschland 1934 bis 1939 in englischer Sprache
  • Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt (PJLF): PJLF-Fragebogen von Raymon Grossman
  • Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt (PJLF): Interview und Privatdokumente.

Fotos:
Privatbesitz

Text und Recherche:
Gretel Ghamsharick

Trudel Grossman, geb. Adler

„Junge jüdische Menschen haben in Deutschland keine Zukunft“

von Gretel Ghamsharick

Trudel Adler ist die jüngste von drei Schwestern, die im Westend in einer angesehenen Familie mit einem großen Freundeskreis aufwachsen. Ab 1933 ist das Leben der Familie in Gefahr und Trudel ist die erste, die Deutschland verlässt und in die Vereinigten Staaten auswandert.

An dem Besuchsprogramm im Jahr 2015 nimmt Mari Ann Schwartzenberg, eine Nichte von Trudel, teil. Sie erzählt, dass es einen Blog über ihre Tante gibt, der Briefe von Trudel aus den Jahren 1934 bis 1938 an ihre daheimgebliebene Familie enthält. Trudel übersetzte diese Briefe viel später ins Englische. Nach ihrem Tod veröffentlichte ihr Sohn Leonard Grossman diese Briefe unter den Namen Trudel‘s Truth.

Frühe Entscheidung zur Emigration aus Deutschland

Trudel Grossman, geb. Adler, kommt am 5. Dezember des Jahres 1912 in der Markgrafenstr. 15 in Frankfurt zur Welt. Ihre Eltern sind Adolph (später nennt er sich Aron) und Maria Adler, geb. Stern. Adolph Adler ist Börsenmakler. Trudel hat zwei ältere Schwestern, Lotte Adler, geb. 1908, und Erna Adler, geb. 1910.

Später wohnt die Familie im Grüneburgweg 96. Die Schwester Lotte erinnert sich an die großen Feste, die die Familie in der Wohnung feierte, und an die Familienausflüge bei schönem Wetter nach Ginnheim. Nach ihrer Schulzeit an der Viktoriaschule macht Trudel eine Lehre bei der Firma Hilda Lorsch, einem Geschäft für Damenhüte, in der Goethestr. 53.

„Jüdische junge Menschen haben in Deutschland keine Zukunft. Ich glaube, ich werde nach Palästina auswandern“, schreibt Trudel 1933 in ihr Tagebuch. Ein Jahr zuvor hat sie ihre Arbeit als Hutmacherin wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage verloren. Seit Ende Januar 1933 ist die nationalsozialistische Regierung an der Macht. Im gleichen Jahr wird ihr Vater nach 53 Jahren Dienst an der Börse entlassen. Ihre Mutter stirbt unmittelbar danach am 23. Juni 1933.
Angesichts der politischen Lage und der Schicksalsschläge in der Familie, denkt Trudel früh an Auswanderung. Ihre ältere Schwester Lotte dagegen kann nicht so ohne weiteres fort. Sie hat noch Arbeit und versorgt den Vater, der sehr krank wird. Hinzu kommt, dass ihr Verlobter eine erfolgreiche Firma leitet, die er nicht aufgeben will. Die Familie befürwortet und unterstützt aber Trudels Ausreise, wie man aus einem Brief von ihrem späteren Verlobten erfährt.

Die Überfahrt – das Brieftagebuch

Für Palästina erhält sie keine Einreisepapiere, stattdessen bekommt sie eine Bürgschaft von Verwandten in Chicago. So steigt Trudel am 8. Mai 1934 in Hamburg an Bord der SS Manhattan. Am 9. Mai schreibt sie ihren ersten Brief an die Daheimgebliebenen. In ihrem dritten Brief an die Familie steht: „Bitte, hebt die Briefe auf, und falls es später jemals möglich sein sollte, lasse sie mir zukommen, denn jetzt bin ich zu beschäftigt, um ein Tagebuch zu führen“, schreibt sie ihrer Familie in ihrem dritten Brief. Kurz nach ihrer Ankunft bemerkt sie in einem ihrer Briefe: „Ich bin sehr froh, dass ihr meine Briefe aufhebt. Es wäre sehr interessant, diese in zwanzig Jahren zu lesen.“

Später ermöglichen diese Briefe eine Rekonstruktion des Lebensweges von Trudel bis zum Jahr 1939. Sie sind einmalige Zeugnisse der Migrationsgeschichte einer jungen Frau, die aus Nazi-Deutschland in die Vereinigten Staaten flüchtet und sich ganz allein in einer rauen Stadt durchzusetzen vermag. Es ist zugleich auch eine spannende Milieustudie über das Leben im Chicago der 30er Jahre.

Erste Eindrücke – der Neuanfang

Nach der Schiffspassage mit anderen Schicksalsgenossen, kommt sie in New York an. Dort findet sie zunächst Unterkunft bei Verwandten. Kurze Zeit später zieht sie weiter nach Chicago, wo sie bei einer Tante und deren Mann in einer kleinen Wohnung unterkommt. Trudel nimmt, so oft sie kann, die Freizeitangebote der Stadt wahr. Sie geht ins Theater, ins Kino, besucht Konzerte und erhält viele Einladungen von anderen Verwandten und Bekannten, die schon länger in Chicago leben. Von den neuen Eindrücken ist sie überwältigt und beschreibt diese detailliert in ihren Briefen: So vergleicht sie beispielsweise öfters die Lebenshaltungskosten und die Modegewohnheiten der amerikanischen Frauen mit denen in Deutschland.

Trudel ist eine moderne Frau, die sich nicht unterkriegen lässt. Ihre Briefe sind in einem heiteren Ton geschrieben, auch wenn das Thema die schwierigen Lebensbedingungen sind. An einer Stelle in ihrem Brieftagebuch gibt es eine knappe Andeutung, wie traurig sie sich auch gefühlt haben muss. Sie berichtet von einem Besuch in der Synagoge und ihrer Unterhaltung mit dem Rabbiner und bemerkt: „Ihr könnt euch vorstellen, wie ich mich danach fühlte.“

Aller Anfang ist schwer – Wohnen und arbeiten

In Chicago wohnt sie bei der Tante und dem Onkel in beengten Verhältnissen. Die beiden lebten vor Trudels Ankunft seit einem Jahr getrennt. Um Trudel den Aufenthalt zu ermöglichen, versprach die Tante wieder zum Onkel zurückzuziehen, wenn er die erforderlichen Papiere unterzeichnete. Das gemeinsame Leben mit den beiden erweist sich jedoch als schwierig. Der Onkel kann nach 30 Jahren in den USA immer noch kein Englisch und lebt in der Erinnerung an Deutschland. Die Tante hofft, dass Trudel für sie den Haushalt führt und ihr Gesellschaft leistet. Trudel macht sich deshalb Sorgen, dass sie in dieser Umgebung nicht schnell genug Englisch lernen und vorwärts kommen wird. In einem Brief äußerst sie sich kritisch über deren Freizeitgestaltung, nachdem sie von den beiden zu einem deutschen Gesangverein mitgenommen wird.

Trudel macht sich sofort auf die Arbeitssuche, obwohl die Tante ihr rät, damit noch zu warten. Sie findet ab Juli 1934 eine Anstellung in einer Hutfabrik, wo sie 14 Dollar die Woche erhält. Der Teilhaber der Fabrik ist der Neffe des Onkels, der ebenfalls aus Frankfurt stammt. Bemerkenswert ist der große Familien- und Freundeskreis, auf den sich Trudel in Chicago stützen kann, und der ihr bei der Arbeitssuche von großem Nutzen ist, denn sie kennt viele Neuankömmlinge, die noch keine Arbeit haben. Sie wird auch daran gedacht haben, sich so früh wie möglich von dem Onkel und der Tante unabhängig zu machen. Außerdem möchte sie genug Geld zusammensparen, um ihre Familie in die Vereinigten Staaten nachzuholen.

Es ist aber nicht einfach, Arbeit zu finden, und falls man welche hat, sie auch zu behalten. Trudel wechselt oft ihre Arbeitsplätze. Eine Episode ist bezeichnend für Trudels Umtriebigkeit. Eine der Firmen, für die sie arbeitet, macht von einem Tag auf dem anderen zu. Sie erzählt es ihrer Friseuse, die ihr wenig später eine andere Arbeitsstelle vermittelt.

Trudel stellt interessante Vergleiche zwischen dem Arbeitsverhalten in den Vereinigten Staaten und Deutschland an. Die amerikanischen Vorgesetzten legen mehr Wert auf Schnelligkeit als auf Qualität. Trudel ist gewohnt, auf sorgfältiges Arbeiten zu achten, und hat deshalb anfänglich Schwierigkeiten bei ihren Arbeitgebern. Nach fast zwei Jahren harter Arbeit an wechselnden Arbeitsstätten eröffnet sie in September 1936 ihren eigenen Laden, den sie allerdings wenig später wegen der schlechten Geschäftslage wieder aufgibt.

Leonard Grossman

Im September 1934 will sich die Tante endgültig scheiden lassen und besucht gemeinsam mit Trudel einen Anwalt. Er heißt Leonard Grossman. „Ich verliebte mich in ihn und seine Stimme, obwohl ich nur die Hälfte von dem verstand, was er sagte“, schreibt Trudel in einem Brief an die Familie. Leonard ist 45 Jahre alt, seit einem Jahr geschieden, hat eine Kanzlei und ist ein engagierter Kommunalpolitiker. Seit ihrer ersten Begegnung treffen sich die beiden regelmäßig und sind sehr glücklich.

Auch Leonards Familie kommt aus Europa. Leonard sprach bis zu seiner Einschulung nur Deutsch; sein Vater stammt aus Ungarn, seine Mutter aus Deutschland. Mit Trudel redet er wieder Deutsch und sie spricht mit ihm Englisch. In August 1936 gehen sie in ein Aufnahmestudio. Auf einem Tonträger erklären sie beide ihre Liebe für einander und Leonard hält um Trudels Hand an.

Eine Chicagoer Zeitung berichtet, dass die Schallplatte nach Frankfurt an die Familie von Trudel geschickt wurde. Wenig später kam ein Telegramm mit dem Einverständnis der Familie, unterschrieben von 70 Mitgliedern der Adler Familie. Der Titel dieses Artikels ist bezeichnend: „Woos by phonograph and wins – 70 relatives“ („Hält mit einer Schallplatte um die Hand an und gewinnt – 70 Verwandte“).

Die Hochzeit – Rabbiner Dr. Georg Salzberger

Am 5.Dezember 1936 heiraten Trudel Adler und Leonard Grossman. Es ist gleichzeitig der 24. Geburtstag von Trudel. Sie entscheiden sich für eine einfache standesamtliche Hochzeit, weil Trudels Familie nicht dabei sein kann. Die Situation von Trudel und ihrer Familie wird in einem Zeitungsartikel über die Hochzeit erwähnt. Dort steht, dass sie, eine junge „refugee“ aus Deutschland, vor kurzem ein Hutgeschäft aufgemacht habe, um genug Geld für die Überfahrt ihrer Familie zusammenzusparen. Nach der Hochzeit arbeitet sie weiter und Leonard ist neben seiner Kanzlei in der Stadtpolitik aktiv.

1937 kommt Trudels Schwester Erna nach Chicago. Nach dem Tod des Vaters in Frankfurt im Jahr 1938 gelingt auch Lotte kurz vor Ausbruch des Kriegs über ein Dienstmädchenvisum die Flucht nach England. Ein Jahr später erreicht auch sie Chicago.

Erst im Jahre 1948 feiern Trudel und Leonard eine große jüdische Hochzeit; ihre Söhne Leonard (fünf Jahre) und Raymon (drei Jahre) sind dabei. Zufälligerweise ist zu der Zeit Rabbiner Dr. Georg Salzberger, den die Adler-Schwestern aus Frankfurt kannten, in Chicago und vermählt die beiden. Dr. Georg Salzberger war von 1910 bis 1937 Rabbiner der Frankfurter Westend Synagoge gewesen. Die drei Adler-Schwestern hatten ihre Bat Mitzwa bei ihm gefeiert und waren auch später noch in Briefkontakt mit ihm.

„Es bricht ihr das Herz, das sie nicht helfen kann.“

Im Februar 1936 hatte Leonard Briefe an Trudels Familie geschrieben und geschildert, wie Trudel sich um ihre Sicherheit sorgte: „Es bricht ihr das Herz, dass sie nicht helfen kann.“ Weiter schreibt er, dass sie sich ängstigt, wenn sie längere Zeit keine Briefe erhält. Er schildert seine und Gertruds begrenzten finanziellen Mittel in der schwierigen wirtschaftlichen Lage in den USA. Man kann vermuten, dass Lotte in ihren Briefen um Hilfe bittet. „Ich schreibe euch, denn ihr sollt wissen, dass wir alles tun würden, um euch zu helfen hierher zu kommen“, schreibt Leonard. „Sie weiß nicht, dass ich euch schreibe. Sie selbst schreibt nichts, um euch nicht zu beunruhigen. Aber das Leben hier ist nicht einfach für sie. Es ist für sie schwer in einem fremden Land ganz alleine, und sie arbeitet hart.“

In ihrem Tagebuch erwähnt Trudel unter anderem einen unfreundlichen Brief von einem Herrn Warburg. Vermutlich hatte sie ein Hilfsgesuch an den amerikanischen Verwandten der Warburg-Familie gerichtet, einer wohlhabenden Bankiersfamilie, die aus Frankfurt stammte; wahrscheinlich hatte der Brief von Warburg eine Absage enthalten.

Ende der Briefe

Trudel schreibt ungefähr 90 Briefe, beginnend mit ihrer Schiffsreise am 9. Mai 1934 bis zum 27. August 1937. Der letzte Brief enthält einen Glückwunsch an den Vater zu seinem Geburtstag. Im gleichen Jahr kommt ihre Schwester Erna nach Chicago. Ein Jahr später stirbt ihr Vater, ihre Schwester Lotte kommt erst 1940 nach Chicago.

Warum keine späteren Briefe Trudels an ihre Schwestern und ihren Vater erhalten sind, kann man nur vermuten. Hörte sie auf einmal mit dem Schreiben von Briefen auf? Die Situation der Familie wurde immer verzweifelter und Lotte schrieb immer seltener nach Chicago. Es ist aber auch denkbar, dass Erna Trudel die bisher an die Familie in Deutschland geschriebenen Briefe überbrachte; die später geschriebenen Brief aber ihren Weg nicht mehr zurück nach Chicago fanden. Lotte war zu dieser Zeit zu sehr mit der Pflege des Vaters beschäftigt, um Briefe von Trudel aufzubewahren (siehe den biographischen Eintrag zu Mari Ann Schwartzenberg).

In einem herzzerreißenden Brief an Erna und Trudel beschreibt Lotte die letzten Tage des Vaters. Der Vater ist schwer krank, aber dennoch voller Hoffnung, seine Kinder wiederzusehen. Lotte beantragt für den Vater eine Nummer für ein Visum nach Amerika und kauft ihm einen Koffer. Einen Tag später ist sein Zustand besorgniserregend und Lotte wird bewusst, dass „der Weg über den Ozean nicht mehr möglich ist“. Kurz darauf stirbt er.

Ginnheim – Leben in Chicago

Trudels Sohn, Leonard Grossman, erinnert sich an seine Mutter als eine staunenswerte, warmherzige und humorvolle Frau, die ihr ganzes Leben hart arbeitete und sich für andere einsetzte. Die Briefe geben einen Eindruck davon, wie schwer ihr Leben als junge Frau war. Dennoch ist der Ton der Briefe lebendig und heiter. Einige Monate nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1956 kauft Trudel ein kleines Haus in einem Stadtteil im Westen Chicagos.

Vor dem Haus liegt ein Garten mit vielen Obstbäumen. Im Frühling blühen die Bäume und duften herrlich, was Trudel an ihre Familienausflüge nach Ginnheim erinnert haben mag. Sie beschließt, an dem Sonntag zwischen Rosch Haschana und Yom Kippur eine Feier für Freunde und Familie in dem Garten zu geben. An einen Baum hängt sie ein Pappschild mit der Aufschrift „Gin(!)heim“. Diese Feiern veranstaltet sie bis sie etwas über 80 Jahre alt ist. Trudel wird 94 Jahre alt und, als sie stirbt, hinterlässt sie zwei Söhne, vier Enkelkinder und zwei Urenkel. Mittlerweile sind es sieben Urenkel und ihre Enkelin Aryn hält die Tradition weiter aufrecht und feiert „Ginheim“.