KURZBIOGRAPHIE

Renata Levy, geb. Lewy,

  • geb. 1938 in Genua/Italien
  • lebt in Atlanta, Georgia, USA.
  • Nichte von Martin Mayer, geb. 1906 in Frankfurt
  • Tochter von Hilde Mayer, geb.1909 in Frankfurt

Teilnahme am Besuchsprogramm: 2014

Harriet Mayer, geb. Glickmann,

  • geb. 1942 in New York City, lebt dort.
  • Schwiegertochter von Martin und
    Aenne Mayer, geb. Marx
    geb. 1910 in Frankfurt
  • Harriet war verheiratet mit Richard Mayer
    Sohn von Martin und Aenne Mayer,
    geb.1934 in Frankfurt
    gest. 2010 in New York City.

Teilnahme Harriets am Besuchsprogramm: 2016

Natalie Green Giles, geb. Green

  • geb. 1965 in New York City
  • Enkelin von Martin und Aenne Mayer, geb. Marx
  • Tochter von Marguerite Green, geb. Mayer, (Tochter von Martin und Aenne Mayer)
    geboren 1940 in New York City, lebt dort.

Teilnahme Natalies am Besuchsprogramm: 2016

Eltern:

  • Martin Mayer (geb. 1906 in Frankfurt, gest. 1970 in New York City)
  • Aenne Mayer, geb. Marx (geb. 1910 in Frankfurt)

Großeltern väterlicherseits:

  • Jakob Mayer (geb. 1876 in Frankfurt, gest.1968 in New York City)
  • Julia Mayer, geb. Gutmann (geb. 1885 in Stuttgart, gest. 1967 in New York City)

Großeltern mütterlicherseits:

  • Dr. Lion Marx (geb. 1870 in Darmstadt, gest. 1948 in New York City)
  • Martha Marx, geb. Schames (geb. 1886 in Frankfurt, gest. 1957 New York City)

Urgroßeltern väterlicherseits:

  • Isaac Mayer (geb. 1837 in Neuleiningen, gest. 1918 in Frankfurt)
  • Mathilde Mayer, geb. Güldenstein (geb. 1853 in Buchau, gest. 1938 in Frankfurt)

Urgroßeltern mütterlicherseits

  • Ludwig Schames (geb. 1852, gest. 1922 in Frankfurt)
  • Fanny Lewisohn (geb. 1859 in Hamburg, gest. 1895 in Frankfurt)

Wohnorte in Frankfurt:

  • Westend: z.B. Westendstraße
  • Ostend: z.B. Wittelsbacher Allee
  • Dornbusch: Raimundstraße

Geschäftsorte in Frankfurt:

  • Neue Mainzer Straße 75
  • Friedberger Anlage 25
  • Opernplatz 10
  • Börsenstraße 3

Schulen:

  • Samson-Raphael-Hirsch-Schule
  • Elisabethenschule, Wöhlerschule
  • Viktoriaschule (heute: Bettinaschule)

Verfolgung:

  • ab 1933 durch Boykotte, Einschüchterungen und Berufsverbote,
  • ab 1935 durch Rassegesetze wirtschaftlicher Niedergang des Betriebs bzw. der Praxis.
  • 9.11.38: Inhaftierung von Dr. Lion Marx im KZ Buchenwald

Exil:
Alle Familienmitglieder flohen ab Mitte 1933 bis Anfang 1939 über Genua und London in die USA


Quellen:

  • Archiv der Wöhlerschule Frankfurt
  • Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW)
  • Institut für Stadtgeschichte Frankfurt (ISG)
  • Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt (PJLF): Mündliche und schriftliche Mitteilungen von Renata Levy, Harriet Mayer und Natalie Green Giles und familienhistorische Quellen
  • PJLF: Vortrag von Natalie Green Giles in der Wöhlerschule 2016
  • Informationen über den Galeristen Ludwig Schames von Frau Maike Brüggen, die Hinweis gab auf folgende Literatur: Expressionismus und Exil. Die Sammlung Ludwig und Rosy Fischer Frankfurt am Main, hrsg. v. Georg Heuberger; Samson Schames, Jüdisches Museum Frankfurt am Main,

Fotos:
Martina Faltinat, Natalie Green Giles, Renata Levy, Harriet Mayer, Liebigschule

Text:
Martina Faltinat, Natalie Green Giles, Renata Levy, Harriet Mayer

Übersetzung:
Renate Rauch

Recherche:
Martina Faltinat, Angelika Rieber

Harriet Mayer, Renata Levy, Natalie Green Giles

„Wie kann nor e Mensch net von Frankfurt sein!“ (Friedrich Stoltze)

von Martina Faltinat, Natalie Green Giles, Renata Levy und Harriet Mayer

Harriet Mayer, Renata Levy und Natalie Green Giles aus den USA sind Nachkommen der Familien Mayer und Marx, die schon seit Generationen in Frankfurt gelebt hatten und denen Stoltzes‘ Liebeserklärung an die Stadt am Main gewiss aus dem Herzen gesprochen war. Die Stadt war für sie mehr als nur ein Ort von Arbeit und Auskommen. Hier fanden durch Martin und Aennes Liebe Westend und Ostend zusammen, hier entstand eine Heimat für beide Familien, die 1933 gewaltsam für alle verloren ging.

Aus den USA nach Frankfurt: Die Nachkommen der Mayers besuchen die Heimat ihrer Vorfahren

Harriet Mayer, geboren 1942, Renata Levy, geboren 1938 und Natalie Green Giles, geboren 1965, sind Nachkommen dieser beiden Frankfurter Familien. Renata Levy hat 2014, Harriet Mayer und Natalie Green Giles haben 2016 am Frankfurter Besuchsprogramm teilgenommen.

Harriet Mayer, geborene Glickman, ist die Schwiegertochter von Martin und Aenne Mayer, geborene Marx. Harriet war mit Richard Mayer (geb.1934 in Frankfurt, gest. 2010 in New York), dem Sohn von Martin und Aenne verheiratet.

Renata Levy, geborene Lewy, geboren in Genua/Italien, ist die Nichte von Martin und Aenne Mayer. Renata ist das einzige Kind von Hilde Lewy, geborene Mayer, der Schwester von Martin Mayer (geb.1909 in Frankfurt – gest.1956).

Natalie Green Giles, geborene Green, geboren in New York, ist die Enkelin von Martin und Aenne Mayer und die Tochter von Marguerite Mayer, die 1940 in New York als Tochter von Martin und Aenne Mayer geboren wurde.


Familie Mayer

Familie Mayer in Frankfurt: 1870 bis 1938

Die Anfänge der Familie Mayer in Frankfurt gehen auf das Jahr 1870 zurück, in dem Isaac Mayer mit seiner Schwester Elise das Unternehmen „E&I Mayer Wild-Geflügel-Bettfedern“ in Heusenstamm, Kreis Offenbach und Frankfurt gründete.

Die Gründer – Isaac und Mathilde – 1870 bis 1918

Von Neuleiningen/Frankenthal in die Frankfurter Großstadt

Isaac Mayer, der Großvater von Martin Mayer, geboren 1837 in Neuleiningen/Frankenthal (damals Bayern, heute Rheinland-Pfalz) wanderte vermutlich wie zahlreiche andere jüdische Bürger in dieser Gegend in den 1860er Jahren aus wirtschaftlichen Gründen in größere Städte, z.B. nach Frankfurt aus. Isaac gründete mit seiner Schwester Elise 1870 die Firma „E&I Mayer Wild und Geflügel“ zunächst in Heusenstamm, Kreis Offenbach, wo sie Geflügel züchteten. Nach und nach entstanden in Frankfurt in der Kleyerstraße, in der Mainzer Landstraße und in der Neuen Mainzer Straße Verkaufs-und Lagerräume für die Haupttätigkeit der Firma Mayer, den europaweiten Ex-und Import von Wild und Geflügel.

„Wildbrethändler“

In der Geburtsurkunde des ältesten Sohnes von Isaac und Mathilde Mayer, Jacob, wird der Beruf des frisch gebackenen Vaters Isaac mit „Wildbrethändler“ angegeben. Mathilde Mayer, geborene Güldenstein stammte aus Buchau, Württemberg, wo es eine große jüdische Gemeinde gab. Mathilde und Isaac heirateten 1875 in Frankfurt. Er war geschieden und 16 Jahre älter als sie. Ihr erster Sohn Jakob wurde 1876 in der Großen Bockenheimer Straße 13 geboren, wo noch vier weitere gemeinsame Kinder in den folgenden Jahren zur Welt kamen.

Elise und Isaac planen die Zukunft

Die beiden Firmeninhaber Elise und Isaac Mayer sorgten rechtzeitig für die Nachfolge in ihrer Firma. Da Elises Ehemann schon früh gestorben war, trat ihr einziger Sohn, Gustav, der 1867 geboren wurde, in das Unternehmen ein. Mit ihm zusammen sollte dann später Jakob erst als Geschäftsführer und dann als Teilhaber in der Firma arbeiten. Der Plan ging auf, das Unternehmen hatte bald vier familieneigene Teilhaber, zunächst Isaac und Gustav, seinen Neffen; später kam dessen Sohn Ernst, Jakob Mayer und Lothar Gutmann dazu, Jakobs Schwager, ein Bruder von Julia Gutmann, seiner Frau. Als Isaac Mayer, der Gründer, 1918 starb, hinterließ er ein gut gehendes Geschäft, das sich stetig vergrößerte, über 80 Mitarbeiter/innen beschäftigte und die vier Familien der Eigentümer ernährte.

Die Nachfolger – Jakob und Julia – 1876 bis 1938

Frankfurt, 22.9.1876, zwei Uhr nachts, Fressgass‘ 13

Jakob wurde 1876 in Frankfurt in der Großen Bockenheimer Straße 13 geboren. Er wuchs in einem Geschäftshaushalt auf, inmitten einer Geschäftsstraße.

Die Große Bockenheimer Straße war damals eine der wichtigsten Einkaufsstraßen für Lebensmittel in Frankfurt, vor allem für die Bewohner des Westends, da sie die Verbindungsstraße zwischen Westend und Innenstadt war. Bis heute wird die Straße im Volksmund „Fressgass‘“ genannt.

Schule und Ausbildung

Jakob besuchte die Wöhlerschule in den Jahren 1887-1890. Sie lag damals im südlichen Teil des Westends, in der Lessingstraße, gut von der Mayer’schen Wohnung aus zu erreichen.

Die Wöhlerschule war 1870, sechs Jahre vor Jakob Mayers Geburt, als Realgymnasium für Jungen gegründet worden. Realgymnasien waren weiterführende Schulen mit einem modernen Konzept. Anders als die traditionellen Gymnasien stellten sie nicht Latein und Griechisch in den Mittelpunkt, sondern moderne Fremdsprachen wie Englisch und Französisch, Naturwissenschaften und Ökonomie; so auch die Wöhlerschule, die eine „Handelsabteilung“ hatte.

Jakob wurde 1890 in die OIII (Obertertia) versetzt, das entspricht heute einer Klasse 9, aber er verließ Ostern 1890 die Schule, um in der Firma seiner Familie seine Ausbildung fortzusetzen. Er war 14 Jahre alt.

Neuer Firmensitz: E&I Mayer in der Neuen Mainzer Straße 75

Die Geschäfte des Unternehmens entwickelten sich in den letzten 20 Jahren des 19.Jahrhunderts sehr gut. Daher stellten die Eigentümer 1884 einen Bauantrag an das Bauamt der Stadt Frankfurt für einen Erweiterungsbau auf dem Grundstück Neue Mainzer Straße 49 und im Jahr 1901 einen Bauantrag für den Neubau eines großen Wohn-und Geschäftshauses auf dem firmeneigenen, unbebauten Grundstück Neuen Mainzer Straße 75.

Neben den Geflügelmästereien auf eigenen Grundstücken in Heusenstamm und der Mainzer Landstraße in Frankfurt wuchs das europaweite Import-Export-Geschäft für Wild und Geflügel stetig. Die Firma Mayer galt in Deutschland als führend in diesem Bereich. In der Kleyerstraße wurde ein großes Kühlhaus gebaut zur Lagerung der eigenen Produkte und zur Vermietung an andere Firmen, die mit Fleisch, Butter, Eiern und anderen verderblichen Waren handelten. Eine Kunsteisfabrik entstand, wodurch sowohl die Nebenprodukte, die bei der Geflügelzucht anfielen, in Eigenregie verarbeitet und gelagert werden konnten als auch das Stangeneis an andere Abnehmer im Lebensmittelbereich verkauft werden konnte. Eine Bettfedernfabrik mit Sortier-und Reinigungsanlage wurde gebaut, um die anfallenden Federn im eigenen Betrieb weiterverarbeiten zu können.

Mit dem Neubau in der Neuen Mainzer Straße 75 sollten mehrere Bereiche der Firma unter ein Dach gebracht werden: Eine große, moderne Büroabteilung mit neuester Telefontechnik, Besucherräumen und ausreichendem Platz für die Rechnungs-und Personalabteilung der Firma; ein großes Einzelhandelsgeschäft für Wild, Geflügel und Bettfedern mit Schauräumen und großzügigen Einfahrten sowie repräsentative, mit modernen Bädern und moderner Heiztechnik ausgestattete große Wohnungen für die Familie Mayer.

Dieser Neubau, der erst um 1905 fertiggestellt wurde, wurde zum Mittelpunkt von Firma und Familie. Isaac und Mathilde zogen dort mit Jakob und seinen Geschwistern ein; in der zweiten großen Wohnung lebten Elise Mayer und ihr Sohn Gustav Mayer, Jakobs Cousin mit seiner Frau Emma und ihren drei Kindern, Ernst, geboren 1887 in Frankfurt, Paula und Augusta.

Jakob zieht aus

Jakob heiratete 1903 Julia Gutmann, die 1885 in Stuttgart geboren wurde. Sie wohnten zunächst in der Liebigstraße 27c, einem Neubau im Westend, wo auch ihre beiden Kinder geboren wurden, 1906 Martin Erich und 1909 Hilde Anna. Bald danach zog die Familie in eine größere Wohnung in der Westendstraße 92.

Von dort aus waren die Schulwege der Kinder sehr kurz. Martin ging wie schon sein Vater Jakob auf die Wöhlerschule, die um die Ecke in der Lessingstraße lag. Seine Schwester Hilde erreichte in fünf Minuten zu Fuß, nur einmal die Senckenberganlage überquerend, die Viktoriaschule, die höhere Schule für Mädchen (heute: Bettinaschule in der Feuerbachstraße).

Die 3. Generation – Martin und Aenne – 1906 bis 1938

„… um sich dem kaufmännischen Berufe zu widmen …“

Von 1916-1924 war Martin Mayer, 1906 in Frankfurt geboren, Schüler des Wöhlerrealgymnasiums wie schon sein Vater Jacob. Martin schloss 1924 seine Schulzeit mit dem Abitur ab, er war der Beste seine Jahrgangs (primus omnium). Bis auf das Fach „Zeichnen“ brachte er es in allen Fächern auf die Noten „sehr gut“ oder “gut“. Aufgrund dieser überzeugenden Leistung wurde er von der mündlichen Abiturprüfung befreit.

Alle Wege standen ihm mit diesem guten Abschluss offen. Aber seine berufliche Zukunft war schon geplant: Er würde seinem Großvater und Vater im eigenen Betrieb nachfolgen. In seinem Abiturzeugnis vom 28.2.1924 steht ein Satz, der das zum Ausdruck bringt: „Die unterzeichnete Prüfungskommission hat ihm demnach, da er jetzt die Anstalt verlässt, um sich dem kaufmännischen Berufe zu widmen, das Zeugnis der Reife zuerkannt und entlässt ihn mit den besten Wünschen.“

Zunächst lernte Martin in wenigen Wochen die verschiedenen Zweige der Firma kennen, um dann zur weiteren Ausbildung und zum Erlernen der französischen Sprache in die Zweigstelle der Firma nach Paris zu gehen. Das Jahr 1925/26 verbrachte er in New York, um Einblicke in andere Firmen zu bekommen und um Englisch zu lernen. Ende 1926 kehrte Martin ins elterliche Geschäft nach Frankfurt zurück, um dort in leitender Stellung tätig zu sein. Geplant war, dass er mit 30 Jahren, also im Jahre 1936, als Teilhaber in die Firma eintreten sollte. Dazu kam es nicht mehr.

27.12.1933: Martin Mayer und Aenne Marx heiraten

Kurz vor Ende des Jahres 1933 heiratete Martin Mayer die Frankfurterin Fanny Anna Marx, genannt Aenne. Sie stammte aus der streng religiösen Familie Marx, die in der Wittelsbacher Allee, im Osten Frankfurts lebten. Sie gehörte der Israelitischen Religionsgesellschaft an, die, wie ihr Gründer Samson Rafael Hirsch es einmal beschrieb, “Toralernen mit bürgerlicher Geschäftstätigkeit” verbinden wollte. Die jüdischen Bürger der Stadt Frankfurt sollten voll integriert und anerkannt sein und gleichzeitig offen und aktiv ihren jüdischen Glauben praktizieren können. Aenne besuchte als Grundschülerin die Samson-Rafael-Hirsch-Schule am Tiergarten und wechselte dann auf die Elisabethenschule, damals eine höhere Mädchenschule im Nordend.

Martin und seine Familie, die in der Stadtmitte und im Westend lebten, waren nicht religiös. Die Skepsis der beiden Familien über die Partnerwahl ihrer Kinder war groß. Dr. Lion Marx und seine Frau Martha, Aennes Eltern, fürchteten, dass Aenne sich durch diese Ehe von ihren religiösen Bindungen und jüdischen Traditionen entfernen würde.

Jakob und Julia, Martins Eltern, fragten sich, ob ihre erfolgreiche Integration in die bürgerliche, nicht-jüdische Gesellschaft durch diese Verbindung Schaden nehmen könnte. Die Namen, die sie ihren Kindern, Martin und Hilde, gegeben hatten, entsprachen ihrem Wunsch, Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein. Auch die Schreibweise von Jakobs Namen mag Ausdruck für den Integrationswillen der 2. Generation gewesen sein: In seiner Geburtsurkunde wird Jacob noch mit „c“ geschrieben, wie auch beim Vornamen seines Vaters Isaac. In allen späteren Dokumenten, auch in seinem Abiturzeugnis, wird Jakob mit „k“ geschrieben.

Die Liebe des jungen Paares aber überwand all diese Bedenken, verband West und Ost und zwei traditionsreiche Frankfurter Familien.

Raimundstraße 109

Die frisch vermählten Mayers zogen in eine moderne Wohnung eines gerade fertig gestellten Neubaus in der Raimundstraße 109, ein Wohnviertel am Dornbusch, das damals ganz neu entstand. Da Frankfurt stetig an Einwohnern zunahm, mussten neue Wohnmöglichkeiten geschaffen werden. Das Dornbuschviertel lag damals am äußeren Rand der Stadt.

Ein schönes Leben schien vor Martin und Aenne zu liegen: Sie liebten sich, sie waren jung, sie hatten ein gutes Einkommen, eine eigene Wohnung. Sie hatten viele Kontakte zu Freunden und Geschäftspartnern, sie genossen das kulturelle Leben in der Großstadt Frankfurt, 1934 wurde ihr erstes Kind Richard geboren.

1933 und die Folgen

1933 war nicht nur das Jahr, in dem Martin und Aenne ihre Hochzeit planten, sondern auch das Jahr der Machtübernahme Hitlers und dem Beginn der Boykott-und Unterdrückungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in Frankfurt.

Bis zum Jahr 1936 hatten sich diese Maßnahmen der nationalsozialistischen Machthaber gegen jüdische Unternehmen auch in Mayers gut gehendem Geschäft so stark bemerkbar gemacht, dass Martin entschied, nicht wie geplant Teilhaber zu werden. Am 26.Juli 1937 wurde ihm als Geschäftsführer von den Firmeneigentümern, seinem Vater, seinem Cousin und seinem Onkel, gekündigt.

Im Jahr 1937 machten Martin und Aenne eine „Erkundungsreise“ nach New York City. Sie planten, Frankfurt zu verlassen und wollten herausfinden, ob New York als Ziel infrage käme. Die reisten mit der „SS President Hoover“. Der kleine Richard blieb in dieser Zeit bei seinen Großeltern in Frankfurt.

Am 1.10.1937 verkaufte die Familie die Firma an Max Neumann, einem selbstständigen Kaufmann aus Berlin, katholisch, 1902 geboren, der am 1.10.1937 in das Wohn-und Geschäftshaus in der Neuen Mainzer Straße 75 mit seiner Frau und drei Kindern einzog. 1939 ist im Adressbuch der Stadt Frankfurt dieser Max Neumann unter dem Namen der bekannten Firma E & I Mayer als neuer Eigentümer eingetragen.

Was wird aus Mathilde?

Mathilde Mayer, Jakobs Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes Isaac 1918 weiterhin in der Neuen Mainzer Str.75 wohnte, musste nach dem Verkauf der Firma an Max Neumann ausziehen. Das tat sie am 4.9.1937, drei Wochen vor dem Einzug der neuen Eigentümer.

Sie zog in die Liebigstr.44, ins Westend. Mathilde war 84 Jahre alt. Für Jakob, ihren Sohn, und Julia, ihre Schwiegertochter war es undenkbar, aus Frankfurt zu fliehen, ohne sie mitzunehmen. Aber ihr Alter, ihr Gesundheitszustand und sicher auch ihre Heimatverbundenheit sprachen gegen diese erzwungene Emigration. Im April 1938 starb Mathilde Mayer, kurz vor ihrem 85.Geburtstag in ihrer Heimatstadt Frankfurt, nur acht Monate nach ihrem Umzug in die Liebigstraße, den sie gewiss als Zwangsmaßnahme empfunden hatte.

Jakob und Julia waren einerseits sehr traurig über Mathildes Tod, gleichzeitig aber auch erleichtert, weil sie wussten, dass sie selbst nicht mehr allzu viel Zeit hatten, um Deutschland unbeschadet an Leib und Leben zu verlassen. Zwei Monate später, im Juni 1938, verließen sie ihre Heimat Frankfurt für immer. Sie reisten nach Genua zu ihrer Tochter Hilde, ihrem Schwiegersohn Walter und der gerade geborenen Enkelin Renata. Sie hofften in Italien bleiben zu können, um möglichst bald wieder nach Frankfurt zurückkehren zu können. Aber mit dem Abkommen zwischen Hitler und Mussolini und den daraus folgenden Rassegesetzen in Italien 1938 wurden diese Pläne hinfällig. Bald darauf flohen alle gemeinsam in die USA.

„Wir lebten sicher, wir lebten gut, wir waren assimilierte Juden, voll integrierte Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Hilde Mayer über das Leben in Frankfurt vor 1933)

Hilde Anna Mayer, geboren 1909 in Frankfurt, war Martins jüngere Schwester. 1928, nach ihrem Abitur auf der Viktoriaschule, studierte sie Architektur in Darmstadt. Sie war eine der ersten Frauen in diesem Fachbereich.

Ausgrenzung und Flucht

Hilde durfte, weil sie Jüdin war, ihr Studium nicht beenden. 1933 musste sie die Universität verlassen. 1934 verließ sie ihre Heimatstadt Frankfurt, um in Genua/Italien Walter Lewy zu heiraten, der schon 1933 dorthin geflohen war. Er war Jude und die Nationalsozialisten hatten ihm, der Rechtsanwalt war, Berufsverbot erteilt. In Italien versuchte er nun, sich eine neue Existenz aufzubauen.

Seit 1938 wurden auf Druck des Deutschen Reiches auch in Italien Rassegesetzeeingeführt, die gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet waren. Registrierung, Ausgrenzung, Berufsverbote, Ghettoisierung und Deportation in Konzentrationslager – das hatte Hilde und Walter aus Deutschland vertrieben, nun mussten sie auch in Genua um ihr Leben fürchten.

Mit Baby Renata auf der Flucht

Zusammen mit Renata, ihrer Tochter, die am 20.Juni 1938 in Genua zur Welt gekommen war, ihren Eltern Jakob und Julia aus Frankfurt und Julias Mutter Friederike Kern Gutmann verließen sie Genua im Februar 1939 auf der MS „Vulcania“ in Richtung New York.

Was wird aus Martin, Aenne und Richard?

Das Leben der Familie Martin und Aenne Mayer ist auf diesem Dokument auf zehn Zeilen zusammengefasst, so wie es amtliche Dokumente an sich haben. Man sieht aber dem Dokument und dem dicken Strich, mit dem es für „erledigt“ erklärt wurde, nicht an, dass hier eine Familie, Vater, Mutter, Kind, nicht freiwillig in die USA umzog, sondern zwangsweise ins Exil getrieben wurde. Der Eintrag im Melderegister der Stadt Frankfurt vermerkt nur: „ am 27.6.1938 nach New York abgemeldet“.

Im Juli 1938 verließen Martin und Aenne mit ihrem dreieinhalbjährigen Sohn Richard ihr Zuhause in der Raimundstraße 109 in Frankfurt am Main. Sie fuhren erst nach Genua, um den schon geflohenen Teil ihrer Familie dort zu treffen. Sie dachten, dass sie sich lange nicht wiedersehen würden. Dann setzten sie ihre Flucht über Le Havre mit der „SS Manhattan“ nach New York fort.


Familie Marx

Familie Marx-Schames in Frankfurt: 1809 bis 1938

Die Geschichte der Familie Marx, die hier erzählt wird, beginnt 1809 mit der Geburt von Isaac Schames. Die Familie, von der er abstammte, war schon Generationen zuvor in Frankfurt ansässig geworden. Der 41-jährige Isaac Schames, laut Melderegister der Stadt Frankfurt ein „Handelsmann“, hatte am 23.Juni 1850 in Bockenheim, das damals noch ein eigenständiges Dorf war, Jeanette Dinkelspiel, die 1823 in Mannheim geboren wurde, geheiratet. Sie wohnten in der Brückhofstraße 8 im Zentrum Frankfurts und gründeten dort eine Familie. Zwischen 1851 und 1859 kamen sechs Kinder zur Welt. Ihr Sohn Ludwig ist der Großvater von Aenne Mayer, geborene Marx, die Frau von Martin Mayer.

Die Großeltern: Ludwig Schames 1852 bis 1922 und Fanni Lewisohn 1859 bis 1895

Ludwig wurde am 11. August 1852 als zweites Kind von Isaac und Jeanette Schames in Frankfurt geboren. Mit 19 Jahren verließ er seine Heimatstadt, um in Paris als Bankier zu arbeiten. Er interessierte sich für zeitgenössische französische Kunst, die er auch sammelte.

1880 heiratete er in Paris Sperenza Rebecca Fanny Lewisohn aus Hamburg. Ihr erstes Kind Leon wurde 1882 in Paris geboren. 1885/86 kehrte die Familie nach Frankfurt zurück, wo am 3.Februar 1886 ihre Tochter Martha in der Ostendstr.12 zur Welt kam. Ludwig reiste häufig, unter anderem nach Paris und Hamburg. Zwischen 1885 und 1895 hatte er verschiedene Wohnorte in Frankfurt, aber immer im Ostend der Stadt, um in der Nähe der orthodoxen Synagogen zu sein: Ostendstraße, Rückertstraße, Uhlandstraße, Seilerstraße, Hanauer Landstraße, wo 1895 Fanny im Alter von 35 Jahren starb.

Im gleichen Jahr zog Ludwig mit seinen Kindern, die 13 und 9 Jahre alt waren, erst in den Baumweg, und im Jahr 1913 in die Wittelsbacher Allee 7. Dort lebte er mit Leon, mit seiner Tochter Martha, ihrem Ehemann Dr. Lion Marx und ihren Kindern, Aenne, die 1910, und Gretel Clara, die 1914 geboren wurden. Ludwig starb dort am 3.7.1922.

Als Ludwig Schames 1895 aus Paris nach Frankfurt zurückkehrte, wusste er, dass er als Kunsthändler tätig sein wollte. Er gründete im selben Jahr mit einem Kollegen zusammen die Kunsthandlung „Posen und Schames“ am Opernplatz 10.

Ab 1906 führte er die Galerie allein, die er nun „Kunstsalon Schames“ nannte. 1913 zog er in die Börsenstraße 2. Ludwig Schames zeigte zunächst französische Impressionisten, früh schon setzte er sich für Picasso und Max Beckmann ein, der ab 1915 in Frankfurt arbeitete.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der „Kunstsalon Schames“ zu einem wichtigen Zentrum des deutschen Expressionismus. Einen seiner wichtigsten Vertreter, Ernst Ludwig Kirchner, lernte Schames persönlich kennen. 1916 zeigte er die erste Einzelausstellung des Künstlers und 1919 dessen Gesamtwerk in seiner Galerie. Weitere Ausstellungen folgten auch nach seinem Tod 1922, anlässlich dessen sich der Künstler Kirchner von seinem Geschäftspartner und Freund Ludwig Schames in dem Kunstmagazin „Querschnitt“ mit einem Holzschnittportrait, das 1918 entstanden war, und folgenden Worten verabschiedete: „Das war der Kunsthändler Ludwig Schames, der feine uneigennützige Freund der Kunst und der Künstler. In edelster Weise hat er mir und anderen Schaffen und Leben ermöglicht.” (E. L. Kirchner, 1922)

Die Eltern: Martha Schames 1886 bis 1957 und Lion Marx 1879 bis 1948

Martha heiratete am 18.10.1907 Lion Marx und zog aus ihrer Wohnung im Baumweg in die Wittelsbacher Allee 7, wo er wohnte. Seine Praxis war ganz in der Nähe in der Friedberger Anlage 25.

Lion Marx wurde 1879 in Darmstadt geboren. Seine Eltern waren der Rabbiner Dr. Asher Lehmann Marx und dessen Frau Rieckchen, geborene Bodenheimer, die aus Biblis stammte. Sie hatten noch vier weitere Kinder. Rabbi Marx war der orthodoxe Rabbiner für Darmstadt und Umgebung und Leiter der dortigen jüdischen Schule.

Lion Marx studierte Medizin an der Universität Würzburg, wo er 1902 sein Studium abschloss. Ab 1905 arbeitete er als praktischer Arzt in Frankfurt in eigener Praxis, die er erfolgreich führte. Dr. Marx war bald in Frankfurt als Arzt bekannt. Die Familie Marx lebte in wirtschaftlich guten Verhältnissen. Als Mitglieder der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt gestalteten sie ihre religiöse Bindung und Traditionen aktiv, waren aber durch die Patienten von Dr. Marx, die aus allen gesellschaftlichen Bereichen kamen und die Verbindung zur Kunst durch Martas Vater Ludwig offen für andere Einflüsse. Lion Marx war im Ersten Weltkrieg Soldat für das Deutsche Reich gewesen, wofür er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde. Es war nicht vorstellbar, weder für ihn noch seine Familie, aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.

Die Kinder: Aenne Marx 1910 bis 1992 und Martin Mayer 1906 bis 1970

Am 3.2.1910 wurde Fanny Anna Marx, genannt Aenne geboren. Da ihre Eltern religiös waren und der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt angehörten, wurde Aenne in jüdisch-orthodoxer Tradition erzogen. Als Grundschülerin besuchte sie die Samson-Rafael-Hirsch-Schule am Tiergarten und wechselte dann auf die Elisabethenschule, die damals eine weiterführende Schule für Mädchen im Nordend war.

Aenne war ein geliebtes und sehr umsorgtes Kind. Mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Gretel Clara hatte sie ein sehr enges Verhältnis gehabt. Als im Januar 1927 Gretel an einer Mittelohrentzündung starb, war das für Aenne und die ganze Familie eine sehr schwere Belastung. Aenne war umso mehr der Mittelpunkt der Familie. Sie war sehr temperamentvoll und neugierig auf das, was das Leben und die Großstadt Frankfurt auch außerhalb von Familie und Schule zu bieten hatten. Sie ging gerne aus, feierte Feste, traf sich mit anderen jungen Leuten. Sie war für ihre Anmut und Schönheit bekannt und wurde oft fotografiert. Fotos von ihr erschienen sogar in einigen Zeitschriften.

So aufgeschlossen wie sie war, ausgestattet mit solider Bildung und einer guten Bindung an die jüdische Tradition, passte Martin Mayer, der Jahrgangsbeste der Wöhlerschule, der gut aussehende, weit gereiste, junge Geschäftsführer, der sich als Teil der Frankfurter Gesellschaft sah, sehr gut zu ihr.

1933 und die Folgen

Lion Marx und seine Frau Martha spürten die Veränderungen seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Jüdische Arztpraxen wie auch jüdische Rechtsanwälte, Geschäftsleute, Ladenbesitzer waren von den Boykott-und Unterdrückungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes betroffen. Von September 1933 an verloren jüdische Ärzte ihre Kassenzulassung und ab September 1938 durften jüdische Ärzte nur noch jüdische Patienten behandeln.

Die Patienten der Praxis Marx sahen sich zunehmend Einschüchterungen ausgesetzt, wenn sie Dr. Marx konsultierten. Ab 1934 verringerte sich die Patientenzahl deutlich. Die jüdischen Patienten verließen – wenn sie konnten – Frankfurt, die nicht-jüdischen Patienten wollten bzw. durften sich nicht von einem jüdischen Arzt behandeln lassen. Dr. Marx wollte die Patienten, die ihm geblieben waren, nicht im Stich lassen. Außerdem konnte er sich ein Leben woanders nicht vorstellen. Nach der Reichspogromnacht blieb ihm keine Wahl mehr.

Reichspogromnacht

Am 10. November 1938 wurde Dr. Lion Marx in seiner Frankfurter Wohnung in der Wittelsbacher Allee von der Gestapo abgeholt und auf einem Transportwagen zusammen mit anderen jüdischen Verhafteten zur Frankfurter Festhalle gebracht. Dorthin wurden im Laufe des Tages viele jüdische Bewohner Frankfurts aller Altersstufen, ausnahmslos Männer, gebracht, die noch am selben Tag in das KZ Buchenwald transportiert wurden.

Die Gestapo verbreitete von Anfang an Angst und Schrecken. In der Festhalle suchten sich die Gestapobeamten einige der Gefangenen heraus, die sie einer Art Spießrutenlauf unterzogen. Sie zwangen die verängstigten Männer, sportliche Übungen nach militärischem Drill zu absolvieren, ließen sie willkürlich Dauerlauf, Kniebeugen, Hüpfübungen machen und begeisterten sich daran, wenn sie nicht mehr konnten oder zusammenbrachen. Es machte der Gestapo offenbar ein besonderes Vergnügen, ältere und gesundheitlich angeschlagene Männer auszusuchen.

Lion Marx, der 59 Jahre alt war und eine Herzschwäche hatte, wurde so lange gequält, bis er zusammenbrach. Trotzdem wurde er noch am gleichen Tag in das KZ Buchenwald deportiert. Dort erlitt er einen weiteren Herzanfall, nachdem er stundenlang ohne Wasser und Nahrung auf dem Appellplatz im „Stillgestanden“ hatte stehen müssen und anschließend erneut zu Dauerlauf und Kniebeugen gezwungen worden war. Als er nach vier Wochen wieder nach Hause kam – er wurde als Weltkriegsteilnehmer und Inhaber des Eisernen Kreuzes frühzeitig entlassen – war er so krank, dass er bis zu seiner Auswanderung im Januar 1939 nach London bettlägerig war und auch nach seiner Flucht in die USA nicht mehr gesund wurde.

Emigration? Nein, Flucht!

Die Verhaftungen und Deportationen in Konzentrationslager nach der Pogromnacht am 9.11.1938 hatten zum Ziel, die jüdische Bevölkerung, vor allem die vermögende bürgerliche Schicht, weiter einzuschüchtern. Denjenigen, die wie Lion Marx den Terror überlebten, wurde bei der Entlassung aus der Haft eingeschärft, Deutschland sofort zu verlassen.

Das Ehepaar Marx bemühte sich in den Wochen nach Lions Rückkehr aus dem KZ Buchenwald sofort und mit aller Kraft um eine Ausreise aus Deutschland. Es gab eine Möglichkeit über London zu fliehen, dort bei Verwandten auf die Weiterreise nach New York zu ihrer Familie zu warten. Dr. Lion und Martha Marx wollten Deutschland so schnell wie möglich verlassen, aber nicht alles hinter sich lassen. Ihr Vermögen, ihre Wohnungseinrichtung, ihre Wertgegenstände, vor allem die gesamte Praxiseinrichtung wollten sie mitnehmen. Es war unvorstellbar für sie, nur mit zwei Koffern ihre Heimat zu verlassen, nichts von dem, was sie geschaffen hatten, mitzunehmen, und in ihrem fortgeschrittenen Alter in einem fremden Land wieder bei Null anfangen zu müssen.

Ausplünderung

Das, was sie an Vermögenswerten und Gegenständen mitnehmen wollten, musste vor der Ausreise von der Golddiskontbank, der Preußischen Staatsbank, den Finanz-und Zollbehörden überprüft und genehmigt werden. Vermögenswerte wie Barvermögen auf Konten, Wertpapiere, Versicherungen, Immobilien wurden über die eigene Hausbank oder die Preußische Staatsbank registriert oder verkauft. Diese Vermögenswerte wurden der Golddiskontbank gemeldet, die nach Abzug einer bestimmten Summe den übrigen Betrag dem Konto der Emigranten in Devisen gut schrieb. Für Umzugsgut und andere Vermögenswerte wurde nach den Pogromen 1938 eine Sondersteuer eingeführt, die sogenannte Judenvermögensabgabe. Lion und Martha Marx zahlten neben den Speditionskosten weitere 637,- Reichsmark nur für die Erlaubnis, ihre Möbel und Bücher etc. mit ins Ausland nehmen zu dürfen.

Die Vorschriften der Behörde legten außerdem genau fest, welche Gegenstände und wie viel mitgenommen werden durfte, z.B. nur Gebrauchsgegenstände, die vor dem Jahr 1933 erworben worden waren, nur exakt bezifferte Mengen. „Es ist unzulässig, in dem Verzeichnis Sammelbegriffe wie „1 Posten Wäsche“ anzugeben. Es sind vielmehr genaue Angaben erforderlich, wie z. B. 5 Tischtücher, 12 Küchenhandtücher usw.“, hieß es in dem Merkblatt der Devisenstelle S Frankfurt für die Mitnahme von Umzugsgut durch jüdische Auswanderer 1939.

Luxusgegenstände wie z.B. Musikinstrumente mussten zurückbleiben und nur wenig Edelmetall und Schmuck, z.B. etwas Tafelsilber und der Ehering konnten mitgenommen werden. Nachdem das genehmigte Umzugsgut verpackt worden war, fand eine Nachschau statt, um zu überprüfen, ob die Vorschriften eingehalten worden waren. Dies geschah durch eine von den Behörden bestellte Firma, die ebenfalls von den Eheleuten Marx bezahlt werden musste. Auch für das Reisegepäck, das sie mit nach London nahmen, mussten sie der Devisenstelle eine detaillierte Liste einreichen, der zu entnehmen ist, dass alle Schmuckstücke gestrichen wurden und in Frankfurt bleiben mussten.

Rosalie Strohmeier

Da die Marxens schon am 2.1.1939 nach London geflohen waren, hatten sie einen Steuerberater beauftragt und dafür bezahlt, die Formalitäten für sie zu erledigen. Erst Ende Januar 1939 legte dieser als Generalbevollmächtigter der Eheleute der Devisenstelle alle Unterlagen zur Genehmigung vor, erst im April ging die Genehmigung ein. Am 8. Mai 1939 kamen Martha und Lion Marx in New York an.

Der Schmuck, das Tafelsilber und die gesamte Praxiseinrichtung blieben in Frankfurt. Lion und Martha Marx hatten alles Rosalie Strohmeier, ihrer langjährigen Haushaltshilfe anvertraut und sie als Bevollmächtigte eingesetzt. Sie musste Tafelsilber und Schmuck der Devisenstelle abliefern und erhielt ca. 10% des Wertes, das waren 475,- Reichsmark für das Silber; für den Schmuck erhielt sie auch 2000,- Reichsmark weniger als er wert war. Die in Frankfurt lagernde Praxiseinrichtung, ihr niedrig geschätzter Wert betrug 20.000,- Reichsmark, war 1939 zwecks Verschiffung nach Hamburg gebracht worden, wozu es aber wegen des Krieges nicht kam. 1941 konfiszierte die Gestapo alles, angeblich um es in ein Lazarett zu bringen.

New York

Lion und Martha Marx hatten sich retten können, sie trafen ihre Familie in New York und lebten dort zusammen. Dr. Lion Marx bemühte sich um Anerkennung seiner Approbation, um in den USA als Arzt zu arbeiten. Er versuchte die vielen und sehr schweren Prüfungen zu absolvieren, aber es gelang ihm nicht. Seine Kenntnisse in der neuen Sprache waren nicht gut genug und er war durch die Belastungen seit 1933, die Wochen im KZ Buchenwald und die anschließende Flucht gesundheitlich schwer angeschlagen.

Vielen ehemaligen Frankfurter Patienten, die auch nach New York geflohen waren, konnte er mit seinem ärztlichen Rat auch im Exil helfen. 1948 starb er infolge eines Herzinfarktes. Seine Frau Martha, seelisch und körperlich ebenfalls sehr angegriffen, starb 1957 im Alter von 71 Jahren in New York.


Neuanfang im Exil

Die Frankfurter „gudd Stubb“ in New York

Jakob und Julia Mayer hatten fast ihr gesamtes Hab und Gut aus Deutschland retten können, als sie im Juni 1938 Frankfurt in Richtung Italien verließen. Aenne und Martin flohen im August 1938 mit ihrem Hausstand, der erst in New York City ankam, als sie längst dort schon wohnten. Lion und Martha Marx hatten nur einen Teil ihres Hausstandes mit nach New York bringen können, aber sie wohnten zusammen mit Martin und Aenne.

So gab es in der Fremde etwas Vertrautes. Die Wohnungseinrichtung, vielleicht erinnerte auch nur das Wohnzimmer an Zuhause, die Frankfurter „gudd Stubb“ in New York. Die Frankfurter meinen mit „gudd Stubb“ nicht nur ihr bestes, gemütlichstes Zimmer in der Wohnung, sondern auch den Römerberg und die Festhalle. Diese vertraute, fast zärtliche Beziehung zu Frankfurt, die in dieser Bezeichnung zum Ausdruck kommt, war durch das erzwungene Exil, die erlebten Ausgrenzungen, die Deportation von der Frankfurter Festhalle nach Buchenwald, die Gewaltexzesse und deren Folgen für diese Menschen für immer zerstört.

1941 – Ausbürgerung und Ausplünderung der Emigranten

Am 25.April 1941 schrieb die Gestapo in Frankfurt an die Leitung der Devisenstelle in Frankfurt einen „streng vertraulichen“ Brief. Jakob Mayer und seine Familie sollten ausgebürgert und das Vermögen zu Gunsten des Reiches beschlagnahmt werden.

Am 12.und am 14.5.1941 antwortete die Devisenstelle in Frankfurt handschriftlich auf der Rückseite der Akte „Ausbürgerung Mayer“ folgendes:

„… Die Listen zum Umzugsgut Mayer wurden am 12.7.1938 mit Genehmigung an das Hauptzollamt Frankfurt weitergeleitet. Die Mitteldeutsche Creditbank, Niederlassung der Commerz-und Creditbank Frankfurt führte im Juni 1938 für Mayer ein Konto. Ob dieses heute noch besteht und Guthaben aufweist, lässt sich aus den Unterlagen nicht ermitteln…“

Diese Dokumente zeigen, dass die nationalsozialistischen Behörden in Deutschland die verfolgten und geflohenen Staatsbürgern weiter bedrängten. Hintergrund war die „Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941“, mit deren Inkrafttreten jeder Jude „mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland“ die deutsche Staatsangehörigkeit verlor. Dies bedeutete, dass auf diese Weise allen bereits ins Ausland übersiedelten deutschen Juden nachträglich die Staatsangehörigkeit entzogen wurde und ihr gesamter Besitz, der in Deutschland verblieben war, an das Deutsche Reich überging.

Diese Verordnung betraf ca. eine viertel Million emigrierte Juden, zu denen auch Jakob Mayer und seine Familie gehörten. In ihrem Fall waren die Behörden im Hinblick auf Einzug von Vermögenswerten offenbar erfolglos, da Jakob Mayer sich, seine Familie und seinen Besitz rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Der Verlust der gesamten Praxiseinrichtung der Familie Marx, die wegen des Kriegsausbruches 1939 in Hamburg lagerte und 1941 von der Gestapo konfisziert wurde, ist vermutlich dieser Verschärfung des Reichsbürgergesetzes zuzuschreiben.

„Vertriebene sind wir, Verbannte.“

Die US-Behörden jedoch behandelten die Mayers und Marxens und all die anderen Flüchtlinge aus Deutschland wie Einwanderer aus freiem Entschluss entsprechend dem „Immigration Act“ von 1924. Das bedeutete, dass aus jedem Land nur eine festgelegte Quote von Bewerbern ein Einreisevisum erhielt, die zudem eine Bürgschaft (Affidavit) oder finanzielle Sicherheiten vorweisen mussten. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt waren, konnten die Einwanderer nach fünf Jahren die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragen.

Die Existenz von Jakob und Julia im New Yorker Exil war gesichert. Sie konnten ein gutes Leben führen, vergleichbar mit ihrem Lebensstandard in Frankfurt, obwohl sie immer wieder Verwandte für längere Zeit bei sich aufnahmen, auch Julias Mutter Friederika und Jakobs Schwester Selma. Sie hatten sehr früh gewusst, dass sie Deutschland verlassen mussten und hatten ihre Flucht gut vorbereitet.

Im Unterschied zu ihnen waren Lion und Martha durch die Verfolgungen nach dem 9. November 1938 und die komplizierte Flucht in letzter Minute über London körperlich und seelisch sehr beeinträchtigt. Sie hatten nur wenig von ihrem Hausstand und Vermögen mitbringen können und hatten kaum finanzielle Reserven. Sie lebten mit Martin, Aenne und deren Kindern, Richard und Marguerite in einer 2-Zimmer-Wohnung. So wenig Platz, das war anstrengend für alle und ein sehr großer Unterschied zu ihrem Frankfurter Lebensstil.

Richard – ein Frankfordder Bubb in New York

Auch Martin und Aenne hatten vorgesorgt. Sie wussten bei ihrer Flucht in die USA im Sommer 1938 nicht, wovon sie künftig leben sollten. Wie würde das Leben für Richard, ihren 3½-jährigen Sohn, in Amerika sein? Ein Kind wächst schnell. Sie wussten nicht, ob sie ihn in den USA würden gut versorgen können. So kauften sie noch in Frankfurt Kleidung auf Zuwachs für den kleinen Richard, der dann als echter „Frankfordder Bubb“ auf New Yorks Straßen unterwegs war. Der Koffer mit neuer Kinderkleidung wurde bei der Ausreise der Mayers 1938 von der Zollfahndungsstelle Frankfurt/Main genehmigt. Dafür musste die Familie eine Abgabe an die Dego, die Deutsche Golddiskontbank, zahlen, die genauso hoch war wie der Wert der Waren.

Marguerite

Am 15.11.1940 wurde Richards Schwester, Marguerite Mayer, geboren. Eine Amerikanerin wurde in eine Familie geboren, die aus der deutschen Heimat vertrieben worden war und im Exil noch keine neue Heimat gefunden hatte. Mit dem neuen Familienmitglied Marguerite, einer echten Amerikanerin, wuchsen die Chancen und der Wille, Fuß zu fassen.

Arbeit

Die sechsköpfige Familie musste versorgt werden. Martin versuchte, an seine Kenntnisse und Erfahrungen mit der Mayer’schen Firma in Frankfurt anzuknüpfen und gründete einen Lebensmittelhandel, dessen einziger Eigentümer er war. „Farmella Food Products Corporation“ befasste sich mit der Reinigung, Verpackung und dem Verkauf von Honig.

Die Firma war nicht erfolgreich, sie brachte nicht den erwarteten Gewinn, der das Einkommen der Familie sichern sollte. Die Kaufkraft des Dollars war stark gesunken, vor allem in der Stadt New York, und die amerikanischen Kunden kauften keinen Honig. Unter diesen Bedingungen gab Martin Mayer die Firma 1949 auf. Später arbeitete er als Angestellter, konnte aber die Position und das Einkommen, das er in Deutschland im Betrieb seines Vaters zu erwarten gehabt hatte, nicht erreichen.

Aufgrund dieser schwierigen finanziellen Situation begann Aenne sich Arbeit zu suchen. Das war nicht einfach für sie, die keine Berufsausbildung und keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet hatte. In Frankfurt hatte sie nicht gearbeitet und sich auch nie mit diesem Gedanken beschäftigt. Aenne probierte verschiedene Jobs aus, auch in einer Bäckerei arbeitete sie eine Zeit lang. Aber sie war nicht zufrieden, bis sie bei „Saks“, dem größten und vornehmsten Kaufhaus auf der Fifth Avenue eine Anstellung als Verkäuferin fand.

Das Kaufhaus Saks gehörte den Gimbel Brothers, einer jüdischen Familie, die schon im 19. Jahrhundert aus Deutschland in die USA ausgewandert war und die in den vierziger Jahren viele aus Deutschland geflohene Menschen einstellte. Aenne, die schöne Dinge liebte und gerne damit umging, verkaufte dort mehr als 30 Jahre teure Handtaschen. Sie war schon weit über 70, als sie in Ruhestand ging. 1992 starb sie im Alter von 82 Jahren.

Entschädigung

Im Jahr 1957 stellten Martin wie auch sein Vater Jakob und seine Schwiegermutter Martha einen Antrag auf Entschädigung aus „Schaden im wirtschaftlichen Fortkommen“ an die Bundesrepublik Deutschland. Das Antragsverfahren war sehr kompliziert, langwierig und mit Anwaltskosten verbunden. Es erforderte schriftliche Nachweise über die Lebens-und Einkommensverhältnisse vor der Flucht, die zum Teil aufgrund des Krieges schwierig zu beschaffen waren.

1961 wurde nach einem vierjährigen Verfahren positiv entschieden: Martin erhielt knapp 10.000 DM als Entschädigung für entgangene Versicherungsleistungen und Rentennachzahlungen und eine monatliche Rente von knapp 100,- DM, das waren damals 25 $, auf Lebenszeit. Er war seit 1957 in ärztlicher Behandlung und starb schon 1970 mit nur 64 Jahren. Lion Marx war schon 1948 gestorben und auch seine Witwe Martha erlebte den Erfolg des langwierigen Entschädigungsverfahrens nicht mehr, sie starb im Jahr der Antragstellung, 1957.

Atlanta, Georgia

Hilde Mayer, Martins Schwester, ihr Mann Walter Lewy verbrachten mit ihrer Tochter Renata einige Wochen bei ihren Verwandten in New York, zogen aber schon im Winter 1939 nach Atlanta in Georgia. Dort lebten Walters Schwester und Schwager, der an der Universität von Georgia in Athens in der Abteilung für Internationales Recht arbeitete. Walter hoffte, wieder als Anwalt tätig sein zu können.

Er begann, amerikanisches Recht zu studieren und schloss sein Studium auch erfolgreich ab. Er konnte aber keinen Berufseinstieg finden, weil Krieg herrschte und sein deutscher Akzent ihn als „enemy alien“ brandmarkte. Doch er fand andere Verdienstmöglichkeiten, sodass die Familie Lewy sich nach und nach eine gesicherte Existenz aufbauen konnte. Hilde Lewy starb 1955, als Renata gerade ihren Abschluss in der Highschool gemacht hatte.

Leben, lernen … ankommen

Martin und Aenne lernten beide Englisch. Martin beherrschte die Sprache schon vor der Flucht recht gut; Aenne brauchte anfangs länger, schließlich sprach sie nicht nur fließend, sondern schrieb und las auch sehr gut. Zu Hause sprachen sie mit ihren Kindern nur Deutsch. Später sprach Richard meistens Deutsch mit seiner Mutter und Englisch mit seinem Vater. Richard wiederum sprach mit seinen Kindern kein Deutsch. Obwohl auch Marguerite mit ihrer Mutter immer Deutsch sprach, lernten ihre Kinder Natalie und Jonathan die deutsche Sprache nicht.

Ihre Eltern, die Mayers und die Marxes lebten in Kew Gardens, einem Stadtteil von Queens in New York, eng beieinander. In Queens gab es damals sehr viele jüdische Flüchtlinge aus Deutschland. Man unterstützte sich, man traf sich oft, es wurde Deutsch gesprochen und Erinnerungen wurden ausgetauscht, was auch gut gegen das Heimweh war. Dr. Lion Marx und seine Frau besuchten regelmäßig die dortige Synagoge, die zu einem Zentrum für orthodoxe Juden aus Deutschland wurde. Die Mayers waren in Amerika wie schon in Frankfurt nicht religiös und an keine Synagoge gebunden.


Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit

Die nächsten Generationen

New York und Atlanta

Martin und Aenne Mayers Kinder Richard und Marguerite blieben in New York. Sie wuchsen dort auf, machten ihre Ausbildung und gründeten in New York eigene Familien.

Richard studierte an der Harvard Universität, bekam ein Fulbright Stipendium und kehrte nach 20 Jahren nach Frankfurt zurück, um an der Universität dort ein Jahr lang Jura zu studieren. Er wohnte in der Schwindstraße im Westend bei Rösl, der ehemaligen Haushälterin seiner Eltern. Richard sprach fließend Deutsch, er babbelte in bester Frankfurter Mundart.

Nach seinem Studium wurde er Patentanwalt, wobei ihm seine Deutschkenntnisse sehr nützlich waren. Er arbeitete er für große deutsche Firmen und reiste daher sehr oft nach Deutschland. Außerdem schrieb er ein Standardwerk über amerikanisches Patentrecht in Deutschland in deutscher Sprache, das sehr bekannt war und viele Auflagen hatte. Richard und Harriet, geborene Glickman, heirateten 1971. Sie bekamen zwei Töchter, die beide verheiratet sind und zwei Enkelsöhne haben. Richard starb im Jahr 2010.

Marguerite heiratete 1960 William Green. Sie bekamen zwei Kinder, Jonathan und Natalie. Natalie ist mit Doug Giles verheiratet, sie haben zwei Töchter. Jonathan ist mit Hilary Thomas verheiratet, sie haben einen Sohn.

Renata Levy, die Tochter von Hilde Mayer und Walter Lewy, wuchs in Atlanta/Georgia auf. Dort heiratete sie Ted Levy, der 2014 starb. Sie hat drei Kinder und vier Enkelkinder.

So haben die ehemaligen Frankfurter Martin und Aenne Mayer fünf Urenkel/innen, die alle amerikanische Staatsbürger/innen sind und in Amerika leben.

Besuche in der Heimat der Großeltern und Eltern

2014 und 2016 nahmen Harriet Mayer, die Schwiegertochter von Martin Mayer, Renata Levy, die Nichte von Martin Mayer und Natalie Green Giles, die Enkelin von Martin Mayer am Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt für die ehemaligen jüdischen Frankfurter/innen und ihre Nachkommen teil.

Juni 2014: Renata in der Bettinaschule, der Wöhlerschule und der Liebigschule

Renata Levy besuchte die Bettinaschule, wo ihre Mutter Hilde 1928 ihr Abitur abgelegt hatte.

Dort wird mit einer Gedenkstätte an die ehemaligen jüdischen Schülerinnen des Gymnasiums erinnert, das vor dem Krieg Viktoriaschule hieß, eine höhere Schule nur für Mädchen war und an der Senckenberganlage stand.

Renata besuchte auch die Wöhlerschule, wo ihr Großvater Jakob Mayer und ihr Onkel Martin Mayer Schüler gewesen waren. Die Wöhlerschule, die im Westend lag, wurde im Krieg zerstört und erst 1957 im Dornbuschviertel wieder neu aufgebaut. Renata fand im Schuleingangsbuch der Wöhlerschule, das den Krieg unbeschadet überstanden hatte, den handgeschriebenen Eintrag über die Aufnahme ihres Onkels Martin im Jahr 1916 und seine Entlassung nach bestandenem Abitur im Jahr 1924.

In der Liebigschule erzählte Renata in einer 10.Klasse vom Leben ihrer Frankfurter Vorfahren.

Juni 2016: Harriet und Natalie auf den Spuren der Mayers und Marxes in Frankfurt

Spaziergang durch Frankfurt: Dornbusch-Westend-Innenstadt-Ostend

Ein Spaziergang auf den Spuren der Mayers und Marxes war für Harriet und Natalie ein Höhepunkt während der Besuchswoche im Juni 2016. Schon die erste Station im Dornbuschviertel, in der Raimundstraße 109, wo Martin und Aenne 1934 ihre erste eigene Wohnung bezogen hatten, war aufregend.

Nachdem es wegen widersprüchlicher Angaben über die Hausnummer schwierig gewesen war, das Haus überhaupt zu finden, sprachen die Bewohner des 3. Stocks die Suchenden an und baten sie schließlich ins Haus, in den Garten und sogar in die Wohnung.

Herr und Frau Magin, die dort schon seit 40 Jahren hier leben, zeigten Harriet und Natalie die Wohnung, in der vor über 80 Jahren Martin und Aenne gelebt hatten und in der Richard, Harriets späterer Ehemann, geboren worden war.

Beschwingt von so viel Gastfreundschaft ging es weiter über einige Stationen im Westend, wo Eltern und Großeltern gewohnt hatten (Westendstraße 92, Liebigstraße 27c, Liebigstraße 44) und wo die Schulen der Kinder gewesen waren (Senckenberganlage, Lessingstraße) über den Opernplatz und die Fressgass‘ zur Neuen Mainzer Straße 75, dem Wohn-und Geschäftshaus der Mayers nach der Jahrhundertwende, über die Innenstadt und die Zeil zur Friedberger Anlage 25, wo Dr. Marx ab 1905 als Arzt praktiziert hatte, und schließlich zur Wohnung der Familie Marx in der Wittelsbacher Allee 7.

Zur Entspannung gab es Kaffee und Kuchen im Café Laumer im Westend …

… und einen Ausflug an den Rhein, den auch schon Martin und Aenne mit Freunden 1933/1934 unternommen hatten.

Besuch in der Wöhlerschule

Ein weiterer Höhepunkt während der Tage in Frankfurt war für Harriet und Natalie der Besuch in der Wöhlerschule. Der Stundenplan des 23.Mai 2016 sah so aus: 9 Uhr Begrüßung, 9-10 Führung durch die Schule, 11.00 -12.30 Geschichtsunterricht.

Die Geschichtslehrerinnen Frau Dauscher und Frau Frau Rathmann und eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern begrüßten die Besucherinnen und erläuterten ihnen in fließendem Englisch auf einem Rundgang durch die Schule deren Architektur und Besonderheiten, wie die Wöhler Wildnis mit den schuleigenen Bienenstöcken, den Gedenkgarten für die von den Nazis ermordeten ehemaligen jüdischen Schüler, das Schwimmbad, die Mensa, die Fotovoltaikanlage auf dem Dach und die Fahrradwerkstatt im Keller.

Im anschließenden Geschichtsunterricht der 9. Klasse von Frau Rathmann erzählten Natalie Green Giles und Harriet Mayer die Geschichte ihrer Familie in englischer Sprache.

Der Abschied wurde Harriet und Natalie durch ein Geschenk versüßt: Honig von den Wöhlerbienen. Dass Honig Martin Mayers Wiedereinstieg in den Beruf nach seiner Flucht in die USA nicht versüßt hatte, daran hat niemand in diesem Moment gedacht: Die Freude über den gelungenen, interessanten Vormittag in der Wöhlerschule stand in den Gesichtern geschrieben.

August 2016: Frankfurt und Darmstadt

Renata Levy machte Ende August 2016 von London kommend für drei Tage Station in Frankfurt. Das war eine gute Gelegenheit für sie, um Orte zu besichtigen, für die 2014 während des Besuchsprogramms keine Zeit gewesen war.

Drei Programmpunkte standen bald fest: Ein Besuch der TU Darmstadt und der Mathildenhöhe, ein Besuch im Institut für Stadtgeschichte, um dort die vollständig erhaltenen Baupläne für das neue Wohn-und Geschäftshaus in der Neuen Mainzer Straße 75 aus dem Jahre 1901/02 zu studieren und schließlich ein ausgiebiger Rundgang durchs Westend.

An der Technischen Universität Darmstadt hatte Renatas Mutter Hilde 1928 angefangen, Architektur zu studieren. Sie war eine der ersten Frauen in diesem Fachbereich. Weil sie Jüdin war, musste sie nach 1933 die Hochschule verlassen. Renata besichtigte den ehemaligen Studienort ihrer Mutter, das Hauptgebäude und die Gebäude der technischen Fachbereiche. Es entstand der Wunsch zu erfahren, ob die Hochschule ein Archiv hat, in dem Dokumente über den Eintritt, die Studienzeit und den Rauswurf von Hilde zu finden sind.

Ein Besuch der berühmten Mathildenhöhe in Darmstadt, dem Zentrum des Jugendstils, schloss sich an.

Im Institut für Stadtgeschichte lag die dicke Akte „Mayer- Baupläne für den Neubau Neue Mainzer Straße 75“ für Renata bereit. Da kein Foto von der Fassade des fertigen Gebäude existiert, gaben besonders die Ansichten und die Grundrisse der Baupläne einen Eindruck davon, wie das Haus hatte aussehen sollen. Im Keller des Frankfurter Stadtarchivs konnte Renata außerdem noch Pläne von einigen der Häuser im Westend ansehen, in denen ihre Familie vor 1938 gelebt hatte.

Der Rundgang durch das Westend, ein Spaziergang auf den Spuren der Vorfahren, führte zu vielen Gedanken und Gesprächen über die Vergangenheit, über die Veränderungen der Stadt und auch über die Frage: Wo wären sie heute, die Mayers und die Marxes, wenn sie nicht hätten fliehen müssen?


Briefe aus Amerika

Natalie, 2. Juni 2016

„Harriet and I have both been very slow to adjust to being back—a combination of the jet lag, as well as the physical and emotional exhaustion of the trip. I don’t think anything could have prepared me for the profound impact of my week in Frankfurt. Just to try to explain what it all meant to family and friends back in NYC has been such a challenge. To fully capture everything—from the personal understanding of my ancestors and their daily life, to the historical context of Frankfurt from 1933-1945, to … the passionate commitment to the Project, to enjoying the vibrant, progressive, sophisticated city of Frankfurt today -it is almost impossible to convey to anyone who wasn’t on the program.

In some ways the experience seemed almost magical. I feel as though I truly traveled back in time, … For being my guide on that journey, I am forever indebted to you. And for your unmatched kindness and sensitivity, and your ability to balance our experience by also bringing us into the current world—in your home, in the Rheingau, at the Monastery, and at the Woehlerschule – …

… you have opened up a whole new world of understanding for me and a deep desire to return to Frankfurt, which now feels like a second home. And for the ultimate expression of the success of our visit … I am now encouraging my college-age daughter to consider studying in Frankfurt when she chooses a place to study abroad for a semester next year …

My many many thanks to you, once again, for everything you gave to us, did for us, and meant to us. Your friendship is the greatest gift we took from Frankfurt.”

All my best, Natalie

Harriet, 6.Juni 2016

„… We are still recovering from our wonderful trip to Frankfurt; I came back with laryngitis and a sinus infection but I am finally better now. I was very unhappy because I had no voice, and could not continue to tell other people about our adventures in Germany.

… Many thanks again for your friendship and warmth and all that you did for us while we were there. Your presence made the trip so memorable.

… I went through a lot of the papers I had, and found more with the address for Martin and Anne Mayer at Raimundstraße 109. So I guess we really “lucked out” in that find. I still find it interesting that I don’t recall ever hearing from my mother-in-law that the building was still standing; perhaps she never went to that neighborhood when she was in Frankfurt in 1986. If she had reported that the building was still there, I am sure that Richard would have visited it on one of his many trips to Frankfurt… So a Puzzle!!!”

All the best, Harriet

Renata, 2. September 2016

„I loved the leisurely stroll through the Westend to see the houses and locations where my family lived and where my mother grew up. The meal at Isoleta was delicious and a lovely introduction to Frankfurt dining out style. Despite the heat, the visit to Darmstadt was extremely meaningful; even the architecture building where my mother was student still existed. Needless to say, the archive was absolutely amazing – unbelievable the material they have there all carefully stored and documented. It will take me some time to absorb all these wonderful experiences …”

All my best, Renata