Zunächst teilte die Familie Linz eine Wohnung mit einer weiteren Familie, und als diese auszog, konnten sie Pensionsgäste aufnehmen und so selbst einen kleinen Teil zu ihrem Unterhalt beitragen. Eugen Linz, der ungern auf Unterstützung angewiesen war, eröffnete außerdem eine kleine Manufaktur in der Wohnung. Er beschäftigte junge Dominikanerinnen, die in Heimarbeit kleine, für den Export bestimmte Puppen herstellten. Da er früher als Vertreter seiner Weinhandlung viel in Spanien herumgereist war, sprach er fließend Spanisch. Für einen anderen Flüchtling, der eine Seifen-, Parfüm- und Schokoladenmanufaktur eröffnete, vertrieb er wie ein Hausierer feine Schokolade an die Familien der höheren dominikanischen Gesellschaftsschichten – eine mühselige Arbeit in einem Land mit tropischem Klima.
In Santo Domingo besuchte Marianne von November 1941 bis zum Oktober 1945 die Volksschule. So wie sie sich in Belgien und Frankreich in kürzester Zeit Französich angeeignet hatte, lernte sie auch hier schnell die spanische Sprache.
Auch aus Santo Domingo gibt es ein reizendes Foto der Zehnjährigen unter Palmen, sie hält ihren neben ihr sitzenden Hund an der Leine.
New York
Im Oktober 1945 erhielten sie ihre lange ersehnten Visa für die USA und verließen die Dominikanische Republik am 16. Oktober 1945.
Mit Zwischenstopps in in Port-au-Prince, Haiti, und Havanna, Kuba, kamen sie am 17. Oktober in Miami an.
Zwei Tage später ging es freitags weiter mit dem Zug nach New York, wo sie eine Wohnung in der Lower East Side bezogen, einer Gegend, in der viele jüdische Flüchtlinge und Einwanderer aus Puerto Rico wohnten.
Marianne wollte weder als Deutsche noch als Jüdin erkannt werden. Sie fürchtete, antideutschen (d.h. anti-nationalsozialistischen) und antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt zu werden, sie hatte genügend Erfahrung darin gesammelt.
Aus Marianne Linz wurde nun Marion Linz. Henriettes Onkel Henry Mayer drängte auf den neuen Vornamen, der seiner Ansicht nach besser in die USA passen würde.
Am Anfang hatte Marion noch Gelegenheit, mit den Kindern der Puertorikaner Spanisch zu reden, sogar für sie zu übersetzen, später verlernte sie diese Sprache.
Die schlichte Wohnung befand sich in einem vierstöckigen Wohnhaus mit je zwei Wohnungen pro Etage und entsprach den einfachen Wohnverhältnissen der Zeit.
Marion erzählte 2012 ausführlich über die „railroad“-Wohnung, in der die Zimmer wie Eisenbahnwaggons hintereinander aufgereiht waren, vorne, zur Straßenseite hin, war der Eingang, der in das Wohnzimmer führte, danach kamen zwei fensterlose, kleine Schlafzimmer, durch einen Vorhang getrennt, danach die etwas größere Küche, mit einem weiteren Eingang und einer überdeckten Badewanne. Die Bedeckung wurde als Küchentheke genutzt. Im Vergleich zu ihrer Wohnung in Santo Domingo war dieses beengte Heim aber ein Fortschritt.
Nachdem die Familie freitags in New York angekommen war, ging es montags für Marion gleich in die Schule und für die Eltern in die Arbeit, die ihnen Henriettes Onkel in voraus verschafft hatte. Der Onkel arbeitete in einer Versandabteilung einer Installationsfirma, musste Waren und ihre Verpackung kontrollieren, und dort konnte auch Eugen Linz arbeiten. Henriette dagegen fand eine Stelle in der Unterwäschefirma, in der ihre Tante arbeitete. Sie gab am Ende des Fertigungsprozesses der Herrenunterwäsche den letzten Schliff und legte sie zusammen. Eugens erstes Ziel war die Rückzahlung der Schiffspassage von 1941 an den Onkel.
Marion war eine gute, ehrgeizige Schülerin, arbeitete auch sehr fleißig und verbrachte viel Zeit über ihren Schularbeiten im Wohnzimmer, wo ihr Vater oft gleichzeitig im Fernsehen Ringkämpfe ansah, nachdem sich die Familie 1951 ihren ersten Fernseher geleistet hatte.
Erst in New York lernte Marion Milch als Getränk kennen, vorher hatte sie ihrer Erinnerung nach nie ein Glas Milch getrunken, jetzt war sie begeistert. In der Dominikanischen Republik gab es nur aufgekochte Milch für den Kaffee.
In der ersten Zeit, als die Familie praktisch nichts besaß, kümmerten sich mehrere Organisationen um die Flüchtlinge, besonders um deren Essen, amerikanisches Essen, das bei der wählerischen Marion nicht immer Anklang fand. Obwohl bis zu dieser Zeit das Essen in der Familie immer knapp war, verspürte die chronisch unterernährte Marion nie Hungergefühle.
Mit 17 Jahren, als Marion die Highschool beendet hatte und nun auf das College gehen wollte, lernte sie bei einer befreundeten Familie, die auch über die Dominikanische Republik geflüchtet war, Norbert Rosenblum kennen. Deren Tochter lud Marion zu ihrer Verlobungsfeier ein und ebenso den Freund Norbert ihres Bruders. Die beiden Jungen und Norberts Schwester hatten in Limoges in Frankreich in einem Flüchtlingsheim, einem Schloss, gelebt, zusammen mit 200 Kindern. Alle drei kamen 1942 auf einem Kindertransport in die USA, auf verschiedenen Schiffen, über Marseille und Lissabon. Norbert und seine Schwester sahen ihre Mutter in Limoges zum letzten Mal. Sie wurde nach Drancy deportiert und starb in Auschwitz. Norbert beendete die Schule in den USA, begann mit 18 Jahren seinen Militärdienst und wurde nach Nordafrika geschickt. Norbert wurde 1926 in Strasbourg geboren.
Marion und Norbert heirateten 1953, da war sie 18 und er 27 Jahre alt.
Nach der Heirat zogen sie nach New Jersey, wo Norbert arbeitete, und kauften dort bald darauf ein Haus in Fair Lawn. 1955 wurde Lenny, 1957 Steven und 1963 Paul geboren.