KURZBIOGRAPHIE

Marion Rosenblum geb. Marianne Linz

Teilnahme am Besuchsprogramm: 2008
Teilnahme ihrer Söhne Lenny und Paul am Besuchsprogramm: 2021

Eltern: Vater: Eugen Linz aus Frankfurt a. M.
Mutter: Henriette Linz geb. Mayer aus Pirmasens

Großeltern: Großvater: Julius Isaac Linz aus Frankfurt a. M.
Großmutter: Mathilde Linz geb. Linz

Großvater:* Leo Mayer* aus Freiburg i. Br.
Großmutter: Karolina Johanna Mayer geb. Gnau

1938 Emigration im Dez. mit einem Kindertransport nach Brüssel
1940 Flucht mit der Mutter nach Südfrankreich
1941 Flucht mit den Eltern nach Santo Domingo/Dominikanische Republik
1945 Emigration mit den Eltern nach New York/USA
1953 Heirat mit Norbert Rosenblum
1964 Umzug der Familie nach Anaheim/Kalifornien


Quellen
– Interview vom 25. Oktober 2012. Marion Rosenblum wird interviewt von Bryon Walsh vom “Center for Oral and Public History, California State University, Fullerton” Aus diesem Interview stammen die vier Zitate.
– Diskussion von Marion und Norbert Rosenblum mit Schülern der ERS 1 in Frankfurt a.M. 2008
– HHStA Wiesbaden: Eugen Linz, Abt. 518, Nr. 2247
– HHStA Wiesbaden: Marion Rosenblum, geb. Linz, Abt. 518, Nr. 34874
– E-Mails von Marion Rosenblum an Waltraud Giesen von Dezember 2021 bis März 2022

Text: Waltraud Giesen
Recherche: Angelika Rieber und Waltraud Giesen
Fotos: Marion Rosenblum

Marion Rosenblum, geb Marianne Linz

“I remembered the smell of Kristallnacht not knowing that that was smoke.”

Von Waltraud Giesen

Marion Rosenblum, die heute, im April 2022, 87-jährig zusammen mit ihrem Mann Norbert und mit Paul, dem jüngsten ihrer drei Söhne, in ihrem Haus in Anaheim/Kalifornien lebt, ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Das erfährt man aus ihren Interviews und ihren E-Mails, in denen sie ihre Einstellung zum Leben und seinen Bedingungen offenbart.
Als sie 2008 mit ihrem Mann als Gast zum ersten Mal nach 70 Jahren ihre Geburtsstadt Frankfurt a.M. besuchte, hatte sie kaum Erinnerungen an den Ort, an dem sie die ersten vier Jahre ihres Lebens verbrachte. Zu viel hatte sie in der Zwischenzeit erlebt.

Marion Rosenblum kam am 12. November 1934 in Frankfurt am Main als Marianne Linz zur Welt. Sie wurde in ein bürgerliches, liebevolles Elternhaus hineingeboren. Die Wohnung befand sich in einem stattlichen Haus in der Scheidswaldstraße 72.
Ihr Vater Eugen Linz, in Frankfurt 1895 geboren, hatte nach dem Abitur auf dem Philanthropin eine kaufmännische Lehre gemacht und vor und nach seinem Militärdienst im Ersten Weltkrieg in der Firma seines Vaters Julius Isaac Linz als Provisionsvertreter gearbeitet. Die Lederwarenfabrik „Linz und Falk“, die einst 30 bis 40 Angestellte ernährte, war ein bekanntes, alteingeführtes und gut gehendes Geschäft. Eugen sollte es später selbständig übernehmen. Dazu kam es aber nicht mehr, da die Firma infolge der Maßnahmen gegen Juden unrentabel wurde und ihre Existenz aufgeben musste. Julius Isaac Linz starb am 6. Dezember 1920.
Danach arbeitete Mariannes Vater von 1934 an für einen Weinhändler aus Neustadt/Weinstraße, „Maucher und Co“, als Alleinvertreter für Hessen und Unterfranken, wo er ein gutes Einkommen erzielte. Im Juli 1938 wurde er jedoch als Jude entlassen, Marianne war 3 1/2 Jahre alt.
Das Grab von Julius Isaac Linz und seiner Frau Mathilde Linz, die am 22. Juli 1929 starb, befindet in gutem Zustand auf dem Rat-Beil-Friedhof in Frankfurt a.M.
Auch Mariannes Mutter Henriette, geboren 1897 in Pirmasens als Henriette Mayer, hatte eine höhere Schulbildung genossen, als Schülerin der Höheren Töchterschule in Pirmasens und Straßburg/Elsass und danach der Handelsschule. Ihr Vater Leo Mayer aus Freiburg i.Br., ein Textilkaufmann, wohnte in seinen letzten Lebensjahren in Bad Homburg v.d.H., wo er auch 1931 bestattet wurde, sein Grab auf dem dortigen Jüdischen Friedhof konnte Marianne (als Marion Rosenblum) bei ihrem Aufenthalt in Frankfurt 2008 zu ihrer großen Freude mit ihrem Mann Norbert Rosenblum besuchen.

Leo Mayer besaß die französische Staatsbürgerschaft, denn seine Mutter, also Mariannes Urgroßmutter, stammte aus Elsass-Lothringen, vor dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 französisches Staatsgebiet. Die Tatsache, dass Henriette Mayer ihre von ihrem Vater übernommene französische Staatsangehörigkeit bei ihrer Hochzeit mit Eugen Linz aufgegeben hatte, sollte später noch eine Rolle im Leben von Henriette und Marianne in Frankreich spielen.
Henriette Mayer hatte noch einen 1901 in Pirmasens geborenen Bruder, Joseph Mayer, der wie sein Vater Kaufmann wurde. Er war Mariannes Onkel und hat sie sicher auch von Darmstadt aus besucht, wo er mit Anna Maria Margarete Mayer, geb. Wiegand, verheiratet war. Er hatte nicht so viel Glück wie seine Schwester Henriette, der es gelang, aus Deutschland zu entkommen. Er wurde, obwohl standesamtlich als „glaubenslos“ registriert, mit 41 Jahren in Auschwitz ermordet.

Kinderjahre in Frankfurt

Marianne wuchs als behütetes Kind in Frankfurt auf. Sie war ein hübsches, lebhaftes kleines Mädchen, auf ihren drei geretteten Kinderfotos, eines davon mit ihrem Vater, sieht man, wie ihre dunkle Lockenpracht das freundliche Kindergesicht umrahmt.
An Fastnacht 1938 durfte sie sich als Clownin verkleiden und mit ihrer Mutter oder ihren Eltern (so genau weiß sie es nicht mehr) durch die Straßen ihrer Wohngegend flanieren und andere verkleidete Fastnachtskinder mit ihrem kleinen Holzstab anstubsen

Unter „normalen Umständen“ hätte Marianne den Wünschen ihrer Eltern gemäß die Erziehung einer gutbürgerlichten Tochter genossen, wäre auf eine höhere Schule gegangen und hätte, wie ein Onkel der Mutter, ein Chemiker, vielleicht ein Universitätsstudium absolviert – aber es kam anders.
Die verpasste Chance auf eine höhere Berufsausbildung, wie in ihrer Familie üblich, ließ sich nie mehr nachholen.
Während der Novemberpogrome 1938 befand sich Eugen Linz auf einer Geschäftsreise in Holland. Ein großes Glück. Seine Frau Henny (Henriette) konnte ihn davon abhalten, nach Frankfurt zurückzukommen. Die Gestapo hatte einmal tagsüber und einmal nachts nach ihm gefahndet, um ihn, wie damals alle jüdischen Männer ab 17 Jahren, in die Festhalle zu bringen und von dort nach Buchenwald oder Dachau zu deportieren.
Eugen Linz gelangte nach Brüssel und versuchte alles, um seine Familie aus Deutschland zu retten. Es gelang ihm, Kontakte zu einer Jüdischen Hilfsorganisation zu knüpfen, der HICEM, und für Marianne einen Platz in einem Kindertransport nach Brüssel zu erwirken. Ihre Mutter würde dann später folgen, das war der Plan.

Kindertransport nach Brüssel

Marion war vier Jahre alt, als ihre Mutter sie im Frankfurter Hauptbahnhof in den Zug zu der abreisenden Kindergruppe setzte. Offensichtlich war es Eltern am 12. Dezember 1938 noch erlaubt, bis zum Zug mitzugehen, oder es war eine Ausnahme, da Marion eine der Jüngsten war. Sehr anschaulich erzählt Marion Rosenblum 2012 von ihrem Abschied aus Frankfurt:

„I knew I was going to see my father at the end of the train ride. (…) So, my mother got on the train with me. At some point in time she went to the ladies room. I followed her, and waited outside the door for a while. She did not come back out. I went back to my seat, and she just got off at the next station, I guess, so it would not be a big … scene. I kept going back and forth looking for my mother, but of course, she had gotten off.“

Ihr Vater, der sie in Brüssel abholte, konnte sie nicht bei sich versorgen, da er als Flüchtling tagsüber hart und lang arbeiten musste. So wurde Marianne zunächst in einem Kinderheim, einem Waisenhaus, untergebracht, wo sie niemanden kannte und deshalb sehr unglücklich war. Daraufhin nahm eine Brüsseler Familie, die ein Adoptivkind suchte, sie auf, vermutlich in der fälschlichen Annahme, sie sei zur Adoption freigegeben. Marianne durfte einen, wahrscheinlich jüdischen, Kindergarten besuchen, in dem, so glaubt Marion heute, Jiddisch gesprochen wurde.
Etwa ein halbes Jahr später gelang es ihrer Mutter Henriette, mit einer kleinen Gruppe nachts zu Fuß die Grenze nach Belgien illegal zu überqueren. Anders als andere Länder hat Belgien nie deutsche Flüchtlinge zurückgeschickt.

Nun war die Familie wieder glücklich vereint, und Marianne wurde auf eine katholische Schule angemeldet, vor allem um Französisch zu lernen. Sie wurde von Nonnen unterrichtet, ging mit ihnen auch in die Kirche und erinnert sich bis heute an den damaligen Weihrauchduft:

“I can still smell what the church smelled like. (…) I remembered the smell of Kristallnacht not knowing that that was smoke. Well, the same way, certain odors kind of stay with you.”

Marion Rosenblum besitzt noch ein schönes Foto von 1939 aus Brüssel. Darauf steht sie lächelnd neben ihrem Vater mit einem kurzen Hängerkleidchen und Kniestrümpfen bekleidet an einem Ladeneingang in der Sonne. Hinter ihr ist die Tochter des Hauswirts.
Inzwischen befand sich Europa im Krieg, und Marianne konnte sich weniger als ein Jahr über das Familienleben mit ihren Eltern freuen.

Flucht nach Südfrankreich, Internierung des Vaters

Am 10. Mai 1940 nahm die Tragödie Belgiens ihren Anfang. Die deutsche Wehrmacht begann mit dem Westfeldzug und griff gleichzeitig die Niederlande, Luxemburg und Belgien an, Brüssel wurde am 17. Mai eingenommen, Belgien kapitulierte am 28. Mai 1940.
Was nach dem deutschen Überfall passierte, erzählt Marion Rosenblum 2012:

„That morning – it was May 10, 1940 – I woke up to the sound of what I thought was thunder, but it was actually bombs back in the distance. And so we went to a (…) huge place. The men were immediately taken away, and so that left my mother and myself. My mother had no idea what happened to my father. Because my father was the manager of that Jewish organization (…) – it was called a HICEM – he had the office keys and my mother wanted to give somebody the keys before we were going to try to leave. That took a while, and finally she found somebody. I remember going to an air raid shelter and people being herded down in the basement. She, I guess, found somebody to give the keys to (…). We left by train, one of these cattle cars that you have heard about. (…) A freight train, not a passenger train. We just got on, and we did not know where we were going. (…) Ultimately we wound up in a little village in Southern France called Marmande.“

Henriette wollte unterwegs bei einem Stopp mit Marianne aussteigen, um nach Paris zu reisen, wovon ihr dringend abgeraten wurde, da der deutsche Einmarsch kurz bevorstand.
So stiegen sie wieder ein, ohne zu wissen, wohin der Zug fuhr, Marianne musste für ihre Mutter das Französische übersetzen. Sie landeten schließlich in Marmande.
Marmande liegt etwa 90 km südöstlich von Bordeaux an der Garonne. Sie kamen zunächst in einem Kloster unter, zusammen mit anderen Frauen und Kindern, ohne Männer, und bekamen Verpflegung und Unterkunft. Später wurde ihnen ein Zimmer mit einem einzigen Bett für beide bei einer Familie zugewiesen. Sie besaßen nichts außer dem Inhalt des Matchsacks, den Henriette in Brüssel mit dem Notwendigsten gepackt hatte, vor allem fehlte es ihnen an Geld. Sie hatten ja alles zurücklassen müssen.
Nach einiger Zeit machte Henriette ihren Mann ausfindig. Er war in Brüssel mit den anderen Ausländern von den belgischen Behörden festgenommen und nach Südfrankreich abtransportiert worden. Die Fahrt dauerte 14 Tage.
Er wurde nacheinander in drei französischen Lagern interniert, zuerst vom 24. Mai bis 1. November 1940 in Saint-Cyprien, am Fuß der Pyrenäen am Mittelmeer, anschließend vom 2. November 1940 bis 12. April 1941 in Gurs, weiter westlich gelegen. In Gurs erlitt er, so vermutet Marion heute, einen Schlaganfall und wurde von einem in Brüssel mitgefangenen Arzt, Dr. Baer, gerettet.
In Gurs erfuhr er, dass die Familie Visa für die Dominikanische Republik erhalten hatte, deshalb sollte er in das damalige Transitlager Les Milles bei Aix-en-Provence weitertransportiert werden. Es wurde ihm erlaubt, unterwegs seine Familie in Marmande zu besuchen. Durch die Mangelernährung war er in einem schlechten körperlichen Zustand und litt an fiebriger Muskelschwäche, wie ihm der behandelnde Arzt Dr. Doumax in Marmande auf einem amtlichen Schreiben bestätigte. Er schrieb dazu, dass sein Patient im Moment nicht in sein Konzentrationslager zurückkehren könne und in das Krankenhaus von Marmande eingeliefert werden müsse.
Schließlich kam Eugen Linz in Les Milles an, wo er noch von April 1941 bis November 1941 ausharren musste. Ab August 1942 wurden vor allem Juden, darunter zahlreiche Frauen und Kinder aus Marseille, aus Les Milles über Drancy in die Vernichtungslager deportiert.
In Marmande lebten Henriette und Marianne unbehelligt eineinhalb Jahre lang, von Mai 1940 bis November 1941.

Nach der Einnahme Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht gehörte Marmande bis November 1942 zur unbesetzten „zone libre“ unter der Vichy-Regierung.
Marianne war nun fast sieben Jahre alt und besuchte die französische Grundschule. Es gibt sogar ein Foto von Marianne und ihrer Mutter Henriette aus Marmande. Sie sitzen in der Sonne auf einer Strandwiese am Ufer der Garonne, in der man schwimmen konnte, eines der wenigen Vergnügen zu der Zeit.

Warum wurden sie als “feindliche Ausländer” nicht von den Franzosen interniert? Marion führt es darauf zurück, dass ihre Mutter die französische Staatsbürgerschaft, die sie bei ihrer Eheschließung aufgegeben hatte, zurückerhielt und wieder Französin wurde. Ihr Vater dagegen war von jeher Deutscher. Aber auch die Vichy-Regierung begann 1940/41, jüdische Flüchtlinge zu verfolgen, zunächst aber keine französischen Juden.
Die Visa in die Dominikanische Republik für die ganze Familie erhielten sie durch die Vermittlung von Mariannes Cousine, die mit ihrem Mann 1939 in die Dominikanische Republik flüchten konnte. Sie gehörten zu den wenigen Deutschen, die der Einladung des Diktators Trujillo gefolgt war, der sich auf der Konferenz von Évian 1938 bereiterklärt hatte, 100.000 Einwanderer aufzunehmen. Nur etwa 800 deutsche Juden ergriffen die Chance, darunter die deutsch-jüdische Lyrikerin Hilde Domin und ihr Mann.

Flucht über Algerien und Marokko in die Dominikanische Republik

Am 7. November 1941 fuhren Henriette und Marianne Linz mit dem Zug nach Marseille. Eugen Linz war am 8. November 1941 auf Grund seines Visums für die Dominikanische Republik aus der Internierung in Les Milles entlassen worden, und nun war die Familie wieder vereint.
Am 10. November 1941 verließen sie Marseille auf einem kleinen Schiff mit dem Ziel Oran in Französisch-Algerien, das damals zum französischen Mutterland gehörte. Die Überfahrt über das Mittelmeer dauerte, wie Marion Rosenbaum sich erinnert, vier Tage, was sicher dem Krieg geschuldet war. Danach fuhren sie mit dem Zug nach Casablanca im Protektorat Französisch-Marokko, wo sie auf die Überfahrt warteten und dann die „Serpa Pinto“, ein portugiesisches Fracht- und Passagierschiff, bestiegen. Dieses Schiff wurde später als Flüchtlingsschiff berühmt. Sie gingen am 7. Dezember 1941, dem Tag des Überfalls auf Pearl Harbor, in der Dominikanischen Republik von Bord.
Die Kosten der Überfahrt für die mittellose Familie, stattliche 250 Dollar, hatte ihnen der in die USA emigrierte Onkel Henriettes, Henry Mayer, und seine Frau geliehen. Als Eugen Linz später in New York eine Arbeit fand, war sein vordringlichstes Bestreben, diese Schuld zurückzubezahlen.
In der Dominikanischen Republik wurden sie vier Jahre lang unterstützt vom American Joint Committee.
Die Familie blieb in der Hauptstadt, damals „Ciudad Trujillo“ genannt, heute Santo Domingo, und ließ sich nicht, wie die meisten deutschen Flüchtlinge, im Norden, in der neu gegründeten jüdischen landwirtschaftlichen Siedlung Sosúa nieder. Dorthin waren Mariannes Cousine und ihr Mann emigriert, die ihnen die Visa beschafft hatten. Dieses bäuerliche Siedlungsprojekt mit Milchwirtschaft und Schweinezucht der deutschen jüdischen Emigranten mitten in der Einöde wurde ein Erfolg für das ganze Gebiet, wenn auch die meisten Flüchtlinge nach dem Krieg in die USA weiterwanderten. (Heute überfluten deutsche Pauschaltouristen die frühere jüdische Fluchtstätte.)

Zunächst teilte die Familie Linz eine Wohnung mit einer weiteren Familie, und als diese auszog, konnten sie Pensionsgäste aufnehmen und so selbst einen kleinen Teil zu ihrem Unterhalt beitragen. Eugen Linz, der ungern auf Unterstützung angewiesen war, eröffnete außerdem eine kleine Manufaktur in der Wohnung. Er beschäftigte junge Dominikanerinnen, die in Heimarbeit kleine, für den Export bestimmte Puppen herstellten. Da er früher als Vertreter seiner Weinhandlung viel in Spanien herumgereist war, sprach er fließend Spanisch. Für einen anderen Flüchtling, der eine Seifen-, Parfüm- und Schokoladenmanufaktur eröffnete, vertrieb er wie ein Hausierer feine Schokolade an die Familien der höheren dominikanischen Gesellschaftsschichten – eine mühselige Arbeit in einem Land mit tropischem Klima.
In Santo Domingo besuchte Marianne von November 1941 bis zum Oktober 1945 die Volksschule. So wie sie sich in Belgien und Frankreich in kürzester Zeit Französich angeeignet hatte, lernte sie auch hier schnell die spanische Sprache.
Auch aus Santo Domingo gibt es ein reizendes Foto der Zehnjährigen unter Palmen, sie hält ihren neben ihr sitzenden Hund an der Leine.

New York

Im Oktober 1945 erhielten sie ihre lange ersehnten Visa für die USA und verließen die Dominikanische Republik am 16. Oktober 1945.
Mit Zwischenstopps in in Port-au-Prince, Haiti, und Havanna, Kuba, kamen sie am 17. Oktober in Miami an.
Zwei Tage später ging es freitags weiter mit dem Zug nach New York, wo sie eine Wohnung in der Lower East Side bezogen, einer Gegend, in der viele jüdische Flüchtlinge und Einwanderer aus Puerto Rico wohnten.
Marianne wollte weder als Deutsche noch als Jüdin erkannt werden. Sie fürchtete, antideutschen (d.h. anti-nationalsozialistischen) und antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt zu werden, sie hatte genügend Erfahrung darin gesammelt.
Aus Marianne Linz wurde nun Marion Linz. Henriettes Onkel Henry Mayer drängte auf den neuen Vornamen, der seiner Ansicht nach besser in die USA passen würde.
Am Anfang hatte Marion noch Gelegenheit, mit den Kindern der Puertorikaner Spanisch zu reden, sogar für sie zu übersetzen, später verlernte sie diese Sprache.
Die schlichte Wohnung befand sich in einem vierstöckigen Wohnhaus mit je zwei Wohnungen pro Etage und entsprach den einfachen Wohnverhältnissen der Zeit.
Marion erzählte 2012 ausführlich über die „railroad“-Wohnung, in der die Zimmer wie Eisenbahnwaggons hintereinander aufgereiht waren, vorne, zur Straßenseite hin, war der Eingang, der in das Wohnzimmer führte, danach kamen zwei fensterlose, kleine Schlafzimmer, durch einen Vorhang getrennt, danach die etwas größere Küche, mit einem weiteren Eingang und einer überdeckten Badewanne. Die Bedeckung wurde als Küchentheke genutzt. Im Vergleich zu ihrer Wohnung in Santo Domingo war dieses beengte Heim aber ein Fortschritt.
Nachdem die Familie freitags in New York angekommen war, ging es montags für Marion gleich in die Schule und für die Eltern in die Arbeit, die ihnen Henriettes Onkel in voraus verschafft hatte. Der Onkel arbeitete in einer Versandabteilung einer Installationsfirma, musste Waren und ihre Verpackung kontrollieren, und dort konnte auch Eugen Linz arbeiten. Henriette dagegen fand eine Stelle in der Unterwäschefirma, in der ihre Tante arbeitete. Sie gab am Ende des Fertigungsprozesses der Herrenunterwäsche den letzten Schliff und legte sie zusammen. Eugens erstes Ziel war die Rückzahlung der Schiffspassage von 1941 an den Onkel.
Marion war eine gute, ehrgeizige Schülerin, arbeitete auch sehr fleißig und verbrachte viel Zeit über ihren Schularbeiten im Wohnzimmer, wo ihr Vater oft gleichzeitig im Fernsehen Ringkämpfe ansah, nachdem sich die Familie 1951 ihren ersten Fernseher geleistet hatte.
Erst in New York lernte Marion Milch als Getränk kennen, vorher hatte sie ihrer Erinnerung nach nie ein Glas Milch getrunken, jetzt war sie begeistert. In der Dominikanischen Republik gab es nur aufgekochte Milch für den Kaffee.
In der ersten Zeit, als die Familie praktisch nichts besaß, kümmerten sich mehrere Organisationen um die Flüchtlinge, besonders um deren Essen, amerikanisches Essen, das bei der wählerischen Marion nicht immer Anklang fand. Obwohl bis zu dieser Zeit das Essen in der Familie immer knapp war, verspürte die chronisch unterernährte Marion nie Hungergefühle.
Mit 17 Jahren, als Marion die Highschool beendet hatte und nun auf das College gehen wollte, lernte sie bei einer befreundeten Familie, die auch über die Dominikanische Republik geflüchtet war, Norbert Rosenblum kennen. Deren Tochter lud Marion zu ihrer Verlobungsfeier ein und ebenso den Freund Norbert ihres Bruders. Die beiden Jungen und Norberts Schwester hatten in Limoges in Frankreich in einem Flüchtlingsheim, einem Schloss, gelebt, zusammen mit 200 Kindern. Alle drei kamen 1942 auf einem Kindertransport in die USA, auf verschiedenen Schiffen, über Marseille und Lissabon. Norbert und seine Schwester sahen ihre Mutter in Limoges zum letzten Mal. Sie wurde nach Drancy deportiert und starb in Auschwitz. Norbert beendete die Schule in den USA, begann mit 18 Jahren seinen Militärdienst und wurde nach Nordafrika geschickt. Norbert wurde 1926 in Strasbourg geboren.
Marion und Norbert heirateten 1953, da war sie 18 und er 27 Jahre alt.
Nach der Heirat zogen sie nach New Jersey, wo Norbert arbeitete, und kauften dort bald darauf ein Haus in Fair Lawn. 1955 wurde Lenny, 1957 Steven und 1963 Paul geboren.

Anaheim – Israel – Anaheim

Im Januar 1964 zog die ganze Familie nach langen Überlegungen nach Kalifornien, wo Norbert Rosenblum einen Arbeitsplatz bei der North American Aviation Company in Downey erhielt, um dort beim Apollo-Programm mitzuarbeiten. Marion freute sich über die neue Heimat, die viel mehr Ähnlichkeit mit der Dominikanischen Republik hatte als New York. Sie fanden ein Haus nahe den Orangenhainen in Anaheim im Orange County. Anaheim hatte damals 100.000 Einwohner.
Im Jahr 1967 starb Marions Mutter Henriette Linz mit 70 Jahren in Anaheim, wohin sie und ihr Mann von New York aus den Rosenblums nachgefolgt waren.
Nach fünf Jahren in Anaheim kam es für die unternehmungslustige Familie wieder zu einem Ortswechsel: Sie zog für sechs Jahre nach Israel, wo Norbert in ein Raumfahrt-Projekt einer amerikanischen Firma eingebunden war. Sie wohnten in Rechovot bei Tel Aviv. Die hebräische Sprache zu lernen war schwer, aber weniger problematisch als die Erfahrung des Jom-Kippur-Krieges (6. bis 25. Oktober 1973), der Marion in traumatischer Weise ihre Kriegserlebnisse in Belgien und Frankreich ins Gedächtnis rief.
In Israel arbeitete Marion als Englisch-Sekretärin für eine Export-Firma für Zitrusprodukte nach England und Deutschland. Sie musste nahezu simultan vom Deutschen ihres Chefs ins Englische auf ihrer Schreibmaschine übersetzen. Sie schaffte es sogar, nach einer gewissen Lernphase, auf einer hebräischen Schreibmaschine hebräische Geschäftsbriefe zu schreiben und auch auf Hebräisch zu telefonieren.
Zurück in Anaheim 1975, wo Marions Vater lebte, baute Norbert eine eigene Firma auf. Als Konstruktionsingenieur schrieb er weiter technische Texte, Gebrauchsanweisungen und ähnliche Manuale, die Marion für ihn anfangs auf der Schreibmaschine schrieb. Sie führte später alle PC-Arbeiten für die Firma durch.
Viele Jahre später machte sie sich mit einem eigenen Geschäft für Transkriptionen selbständig. Zwanzig Jahre lang übertrug sie von zuhause aus gesprochene Texte ihrer Kunden auf den Computer, eine sehr mühselige, zeitaufwendige und diffizile Arbeit. Zusätzlich beschäftigte sie eine spanische Übersetzerin und fünf weitere Frauen, die von ihren Wohnungen aus mitarbeiteten. Mit dem Aufkommen von Internet und Digitalisierung war es einfacher, aus dem ganzen Land Aufträge zu bekommen. Sie arbeitete für Versicherungen, Interviewer, Professoren, Studenten.

Marion und Norbert leben weiterhin in Anaheim. Ihr Sohn Paul wohnt bei ihnen im Haus, ihr anderer Sohn, Lenny, der im Flugzeugbau arbeitet, mit seiner Familie in der Nähe, in Fullerton, auch im Orange County, und Steven wohnt in New York.

Ein Hobby, das Marion und Norbert seit 1982 gemeinsam begeistert, ist Square Dancing, das sie zweimal wöchentlich wie einen Sport übten und sie in Länder wie Korea, Taiwan, Japan, Schweden, Norwegen, Dänemark und Deutschland führte.
Mit ihren drei Kindern sprachen sie absichtlich nie deutsch, sie sind echte Amerikaner geworden und wollten ihre Kinder vor einem deutschen Akzent bewahren. Falls Marion einen leichten Akzent hat, geht er im Orange County als New Yorker Akzent durch, das ist ihr nur recht. Auch ihr Vater Eugen Linz sprach in seinen späteren Jahren nur noch Englisch. Er starb in Anaheim am 22. Dezember 1978.

Über sich selbst sagt Marion, dass ihre Kinderjahre im Krieg ihr gesamtes Wesen geprägt haben:

„I‘d be probably a totally different person if I didn’t have those experiences. Probably much more carefree. Maybe I worry too much. (…) I do all the worrying for the family. (…) I‘m always like, you know, projecting the worst. (…) I don‘t consider myself a negative person, not at all, but I am always looking ‘what if’, you know. What if? And, the ‘what if’ is never a good ‘what if’. (…) I‘m satisfied with what we have. (…) I‘m happy with what I have.“

Im März 2022 fügte Marion Rosenblum diesem Kommentar aus dem Interview mit Bryon Walsh von 2012 noch etwas für sie Wichtiges hinzu: „I value and appreciate the little things in life and find pleasure in them. I appreciate my family. I value good friends and form lasting relationships. I value truth and honesty and justice. I do not take anything for granted.“

Über den Zweiten Weltkrieg und die Verbrechen Hitlers und der Nationalsozialisten hat sich Marion immer sehr viele Gedanken gemacht und darüber auch mit Schülern diskutiert, als sie 2008 mit ihrem Mann als Zeitzeugin in der Frankfurter Ernst-Reuter-Schule 1 zu ihnen sprach

Im November 2021, 13 Jahre nach ihren Eltern, gehörten auch die Söhne Lenny und Paul Rosenblum zu den Eingeladenen der Stadt Frankfurt und stellten sich mit großem Interesse den Fragen eines Oberstufenkurses der Albert-Schweitzer-Schule in Schwalbach. Auch sie besuchten das Grab ihrer Urgroßeltern Julius Isaac und Mathilde Linz im Alten jüdischen Friedhof in der Rat-Beil-Straße und das Haus ihrer Großeltern Eugen und Henriette Linz und ihrer Mutter Marion, sowie das Haus ihrer Urgroßeltern in der Scheffelstraße.
Ihr Interesse an der Stadt ihrer Vorfahren wuchs von Tag zu Tag, sie wollen wiederkommen.