KURZBIOGRAPHIE

Werner Rothschild geb. am 12.01.1928 in Frankfurt/Main

Teilnahme am Besuchsprogramm

2004 mit Ehefrau Audrie (18.09.1929 – 5.09.2016)
2019 mit seinen Kindern Amy Manheim, Dori Fishbin und Gary Rothschild

Schulbesuch im Philanthropin Frankfurt/Main

Volksschule 1934 –1937
Realgymnasium 1937/38

Wohnadressen:
Oederweg 7
Eschenheimer Anlage 31
Emigration:
März 1939 nach England
Sommer 1940 in die USA
Beruf:
Lehrer, Schiedsrichter, Direktor eines Sommercamps
Eltern und Bruder:
Vater Dr. Siegmund Rothschild geb. am 4.03.1884 in Waltersbrück/Vogelsberg
Oberlehrer am Philanthropin und Präsident der liberalen Hauptsynagoge
Am 9.11.1938 verhaftet,
Deportation nach Buchenwald. Nach drei Wochen entlassen,
1939 Ausreise nach England und 1940 in die USA,
In New York in Hilfsarbeiter-Jobs tätig, 1952 gestorben

Mutter Elise Block Rothschild geb. am 4.04.1892 im schlesischen Ratibor,
1911 Examen als Lehrerin, mit Unterbrechung am Philanthropin und im Jüdischen Lehrhaus tätig,
organisierte 1939 die Ausreise der Familie nach England und in die USA,
in New York im Waschsalon gearbeitet, privat Sprachunterricht erteilt
1994 gestorben

Bruder Ernst Rothschild geb. am 1.03.1922
Schulbesuch
Schwarzburgschule1928-1931
Volksschule Philanthropin 1931-1932
Realgymnasium Philanthropin 1932 – 1937 Abschluss mittlere Reife
1937 – 1938 Ausbildung zum Lederzurichter, 1938 Entlassung wegen Arisierung
1939 Ausreise mit dem Vater nach England und 1940 in die USA
in verschiedenen Branchen in New York tätig, verheiratet mit Margot Ochs,
ein Sohn Alex, gestorben am 11.12.2011

Großeltern von Werner Rothschild
Gerson Rothschild geb. am 1.05.1855 in Waltersbrück, gestorben am 17.04.1930 in Waltersbrück
Fanny Kugelmann geb. am 11.09.1857 in Wohra/Hessen, emigrierte am 6.03.1939 in die Niederlande, Deportation am 9.05.1943 nach Sobibor, am 14.05.1943 ermordet.
Sie hatten acht Kinder, zwei Söhne und sechs Töchter, vier starben durch den Holocaust.


Quellen:
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Interview mit Schüler:innen des Lessing-Gynmasiums – Audiodatei vom 17.06.2019
Stammbaum – zusammengestellt 2017 von Hans Peter Klein
Angelika Rieber: Süßlächelnd auf den Freier warten?
Private Fotos und Dokumente der Familie Rothschild
Fotos vom Besuch in Frankfurt 2019: Familie Rothschild und Lessing-Gymnasium
Foto Friedhof: Brigitte Hofacker

Recherche:

Brigitte Hofacker und Angelika Rieber

Text:

Brigitte Hofacker

Werner Rothschild

Ich fühlte mich vom ersten Tag an als Amerikaner

von Brigitte Hofacker

Werner Rothschild wurde am 12.01.1928 als zweiter Sohn des Ehepaares Dr. Siegmund Rothschild und Elise Block Rothschild in Frankfurt geboren. Er hatte noch einen sechs Jahre älteren Bruder Ernst. Die Familie wohnte in der Eschenheimer Anlage 31. Die Eltern waren als Lehrkräfte am Philanthropin tätig und auch die Söhne wurden dort unterrichtet. In Werners Erinnerung war das Leben vor Einführung der Nürnberger Gesetze 1935 wunderbar, wie er im Interview mit jungen Menschen berichtete. 1939 musste die Familie dann Deutschland verlassen. Über Großbritannien erreichte sie die USA.
2019 kam Werner mit seinen Kindern Amy Manheim, Dori Fishbin und Gary Rothschild im Rahmen des Besuchsprogramms in seine alte Heimatstadt, nachdem er 2004 mit seiner inzwischen verstorbenen Frau Audrie erstmals die Einladung der Stadt Frankfurt angenommen hatte. Werner und seine Kinder waren von dem Besichtigungsprogramm und den bedeutsamen Erlebnissen in dieser Woche sehr beeindruckt, insbesondere von der Begegnung mit Schüler:innen des Lessing-Gymnasiums und ihres Lehrers Martin van Kampen.

Die „Reichskristallnacht“ und ihre Folgen für die Rothschilds

Die Rothschilds fühlten sich immer zuerst als Deutsche, und an zweiter Stelle waren sie jüdisch. Diese Sichtweise ließ sich in den dreißiger Jahren nicht mehr aufrechterhalten. Das sorgenfreie Leben der Familie endete mit den zunehmenden Diskriminierungen. Die Kinder wurden jetzt von ihren christlichen Freunden nicht nur ausgegrenzt, sondern auch beschimpft. Ein Freund enttäuschte Werner besonders, denn mit Eintritt in die Hitlerjugend sprach er fortan kein Wort mehr mit ihm. Werner erinnert sich auch an eine Begebenheit als 8-Jähriger. Bei einem Besuch in Borken, Nordhessen, wurde er gemeinsam mit seinen Cousins von Jugendlichen gejagt. Mit Mühe und großer Angst konnten sie entfliehen.

Die Schule in Deutschland endete für Werner mit dem Novemberpogrom 1938. Viele seiner Lehrer wurden verhaftet und konnten nicht mehr unterrichten. So erging es auch seinem Vater. Werner bekam am 31.01.1939 ein gutes Abgangszeugnis und wurde mit den besten Wünschen für die Zukunft entlassen. (siehe Dokument rechts)

Der schlimmste Tag seines jungen Lebens war für Werner allerdings die sogenannte „Reichskristallnacht“. Er musste miterleben, wie Möbel aus den Fenstern flogen und Gebäude brannten. Unmittelbar danach wurde sein Vater von der Gestapo abgeholt. Man ließ ihm 10 Minuten, um seine Sachen zu packen, dann wurde er nach Buchenwald deportiert. Zum Glück war sein Bruder nicht zu Hause, sonst wäre auch er verhaftet worden.

Seine Mutter Elise suchte verzweifelt nach Mitteln und Wegen, ihren Mann zurückzuholen. Als anerkannter Historiker war sein Vater europaweit vernetzt, so wandte sie sich auch an das schwedische Konsulat und sogar an einen ehemaligen Kriegskameraden aus dem Ersten Weltkrieg. Dieser war alkoholkrank und hatte während der Kriegseinsätze große Probleme. Siegmund half ihm damals aus der Patsche. Unter den Nazis hatte dieser Mann bei der Hitlerjugend Karriere gemacht. Als Siegmund im Dezember aus dem KZ kam mit der Maßgabe, Deutschland schnell zu verlassen, fragte sich die Familie, ob das auf diesen Kontakt zurückzuführen sei. Doch auch eine andere Möglichkeit kam infrage. Kämpfer aus dem Ersten Weltkrieg gehörten damals zu den ersten, die wieder entlassen wurden. Nach Hause kam ein gebrochener Mann und es dauerte Wochen und intensive Pflege durch seine Frau, bis er wieder einigermaßen zu Kräften kam. Sobald es seine Gesundheit zuließ, reiste er mit seinem Sohn Ernst nach England, mit 10 Mark in der Tasche. Mehr war pro Person nicht erlaubt. Der einzige Kontakt dort bestand zu zwei Brüdern von Elise, die 1935 aus Ratibor emigriert waren und in London eine Zahnarztpraxis eröffnet hatten.
Mutter und Werner blieben in Frankfurt zurück.

Mit dem Kindertransport nach England

Elise Rothschild konnte in Erfahrung bringen, dass die Engländer 10 000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei evakuieren wollten. Sie ließ Werner registrieren, und als er die Erlaubnis erhielt, brachte sie ihn zum Hauptbahnhof. Er reiste, ohne jemanden zu kennen, nach Hamburg. Eine besonders unwürdige Situation musste Werner zuvor ertragen. Die Gestapo befahl dem 10-Jährigen, sich nackt auszuziehen, um zu überprüfen, dass er nichts Verbotenes am Körper trug. Von Hamburg aus ging es mit dem amerikanischen Schiff SS Manhattan über Le Havre nach Southampton. Werner nennt es heute seine „erste Kreuzfahrt“. In Margate wurden die Kinder in einer Jugendherberge untergebracht. Die 7-15-Jährigen lebten dort unbehelligt an der Küste, allerdings fand kein Schulunterricht statt, sodass sie kaum Englisch lernten. Den Besuch des Vergnügungsparks in der Nähe der Unterkunft hat Werner in guter Erinnerung.

Mit Ausbruch des Krieges wurden die Kinder in den Norden des Landes verlegt.

Da Elise inzwischen Deutschland hatte verlassen können, holten die Eltern Werner zu sich und die Familie lebte in einem Apartment in London. Jetzt konnte er auch eine Schule besuchen. Die Nächte waren bedrohlich. Durch heftige Bombenangriffe musste die Familie häufig in einem Schutzraum Zuflucht nehmen.

Während der Bruder in dieser Zeit in einer Gerberei tätig sein durfte konnte, hatte der Vater keine Arbeitserlaubnis. Er wurde von einer jüdischen Organisation unterstützt, seine Mutter, in jungen Jahren als Nanny in England im Einsatz, erteilte den jüdischen Exilanten Englischunterricht und konnte sich so etwas dazuverdienen.
In Deutschland hatte Elise Rothschild sich beim amerikanischen Konsulat in Stuttgart um eine Visa-Registrierung für die Einreise in die USA bemüht. 16 Stunden Wartezeit bescherten ihr die Nummer 42000. In Anbetracht der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt jährlich nur 20 000 Menschen aus Deutschland einreisen durften, hätte diese hohe Nummer den sicheren Tod bedeutet. Die Flucht nach England im Frühjahr 1939 sicherte ihnen das Überleben. Als sie im Sommer 1940 ihre Nummer erhielten, konnten Werner und sein Vater in einem Konvoi von 60 Schiffen in die USA emigrieren. Nach 30 Tagen Seefahrt kamen sie in Boston an. Ernst und Elise folgten kurze Zeit später.

Siegmund Rothschild

Beide Eltern stammten aus kinderreichen Familien. Der Zweig der Rothschilds kam aus Waltersbrück in Nordhessen. Der Stammbaum lässt sich bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Waltersbrück, heute zur Kommune Neuental gehörig, war im 19. Jahrhundert eine kleine jüdische Filialgemeinde von Zimmersrode, bestehend aus nur wenigen Familien mit eigenem Betraum in einem Privathaus. Die jüdische Schule befand sich in Zimmersrode, Der zentrale Friedhof für alle umliegenden Gemeinden war in Haarhausen.

Siegmund wurde 1884 als ältester Sohn von Gerson Rothschild und Fanny Kugelmann in Waltersbrück geboren. Gerson starb 1930 in Waltersbrück und wurde auf dem jüdischen Friedhof Haarhausen beerdigt. Sein Grab ist eines der wenigen gut erhaltenen Gräber. Fanny emigrierte 1939 in die Niederlande, wurde dort 1943 nach Sobibor deportiert und am 14.05. desselben Jahres ermordet.

Siegmund kam 1911 nach Frankfurt und unterrichtete bis 1939 am Philanthropin. Er war ein geschätzter Historiker mit guten Kontakten ins Ausland und Präsident der liberalen Hauptsynagoge in Frankfurt.

Elise Rothschild, geb. Block

Werners Mutter Elise, geborene Block, kam 1892 in Ratibor zur Welt. Von ihr sind weniger Informationen überliefert. Elise legte im März 1911 ihr Examen als Lehrerin ab und erhielt im Mai das Unterrichts-Befähigungszeugnis der Lehrerinnen-Ausbildungsanstalt des Fräulein Martha Prusse in Ratibor. Wie sie nach Frankfurt kam, ist nicht bekannt.

Elise unterrichtete nach eigenen Angaben von 1913 – 1939 mit Unterbrechung am Philanthropin. Ungeklärt ist die Frage, ob sie mit der Heirat 1921 die Tätigkeit als Lehrerin dort aufgab. Der 1880 eingeführte Lehrerinnen-Zölibat verlangte die Ehelosigkeit der Lehrerinnen. 1919 wurde dann in der Weimarer Reichsverfassung die Diskriminierung weiblicher Lehrkräfte beendet. Alle Ausnahmebestimmungen wurden beseitigt. Doch schon vier Jahre später sah eine Verordnung vor, dass verheiratete Beamtinnen aus dem Schuldienst entfernt werden konnten. Die wirtschaftlichen Zeiten waren schwierig und in erster Linie sollten die Stellen den Männern vorbehalten sein. So gab Elise noch Privatstunden und arbeitete am Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt, wo sie Englisch unterrichtete, wie aus einer Bescheinigung von Professor Ernst Kantorowizc, einem bekannten Historiker der Frankfurter Universität, hervorgeht.

Elise war eine tatkräftige Frau. Sie sorgte nicht nur dafür, dass ihr Mann aus Buchenwald entlassen wurde, sondern sie organisierte auch die Ausreise nach England und in die USA. Überliefert sind die vorbereiteten Umzugslisten der Familie vom Februar 1939. Akribisch musste aufgelistet werden, was die Familie mitnehmen wollte. Diese Unterlagen geben nicht nur Einblick in den Hausrat der Rothschilds, sondern auch in die Lesegewohnheiten von Intellektuellen und ihren Kindern. Vom banalen Zettelkasten unter „Verschiedenes“ bis hin zu Charles Dickens´ Oliver Twist aus der Liste von Ernst, mit dem Hinweis „Konfirmationsgeschenke“, war der gesamte Hausstand, Anschaffungen vor 1933 oder danach, vermerkt. Zahlreiche Noten und Kinderlieder zeugen von der Musikalität der Familie. Doch alle Mühe war umsonst. Die Umzugskartons sind niemals am Zielort angekommen. Am 3. Februar 1939 unterschrieb Elise eine eidesstattliche Versicherung, dass keine Schulden bei der Reichsbank bestünden, es kein Auslandsdepot von Wertpapieren gebe und unrichtige Angaben strafrechtliche Verfolgung nach sich zögen.

Die meisten Verwandten wurden ermordet

Siegmund hatte noch sieben Geschwister, sechs Schwestern und einen Bruder. Seine Schwester Klara konnte 1939 in die USA emigrieren, dank ihrer Bürgschaft gelang es Werners Familie, in die USA zu kommen. Klara ging nach New York, während Bruder Max und seine Frau Johanna nach Argentinien auswanderten. Ihre Söhne Fritz und Richard hießen von da an Frederico und Ricardo. Alle anderen Geschwister überlebten den Holocaust nicht. Tragisch ist das Schicksal von Ludwig Hirschberg, dem Sohn von Schwester Käthe. Er konnte auf der St. Louis entkommen. Doch bei der Ankunft in Kuba wurde das Schiff zurückgewiesen. Auch in New York durften die Passagiere nicht an Land gehen. Desgleichen geschah auf dem Rückweg nach Deutschland in England und Belgien, wo nur eine kleine Anzahl das Schiff verlassen konnten. Das galt nicht für Ludwig. Er wurde in Auschwitz ermordet.

Elise hatte sieben Geschwister. Ein Bruder starb als Kleinkind. Die drei Schwestern kamen im KZ um, ein Bruder ging nach Südafrika und zwei weitere Brüder – wie schon erwähnt – bauten sich in London eine neue Existenz auf. Edith Moses Geller, die Tochter von Schwester Grete emigrierte in die USA und lebte in Las Vegas. Werner, der Sohn von Schwester Trude ließ sich in Denver, Colorado nieder. Er nannte sich fortan Warren Torrington und hatte keinen Kontakt mehr zur Familie.

Leben in den USA

Siegmund Rothschild

Der Neubeginn in den USA war für das Ehepaar mit enormen Herausforderungen verbunden. Beide konnten nie mehr in ihrem erlernten Beruf tätig sein. Siegmund, promoviert in Philosophie, arbeitete zuerst als Tellerwäscher. Bis zum Ende seines Lebens hielt er sich zumeist mit Mini-Jobs über Wasser. In seiner letzten Tätigkeit war er für den Versand in einem großen Konzern zuständig. 1952 starb er 68-jährig an einem Herzinfarkt, ausgelöst durch eine kontaminierte Spritze während einer Routineuntersuchung. Die Erfahrungen in Buchenwald hat er nie thematisiert.

Elise Rothschild

Elise überlebte ihren Mann um 42 Jahre und starb hochbetagt mit 102. Sie führte ein sehr selbständiges Leben; erst im Alter von 90, nach einem Hüftbruch, wurde sie in dem Altersheim Margaret Tietz aufgenommen. Diese Einrichtung entstand 1971 für Holocaust Überlebende.
Elise hat im familiären Waschsalon gearbeitet, deutschen Immigranten Englischunterricht erteilt und ehrenamtlich die Bücherei der Young Men’s Hebrew Association, YMHA, unterstützt. Viele Jahre hat sie um Entschädigung gekämpft und erstritt sich ab den fünfziger Jahren eine kleine Rente. Dieser Betrag konnte natürlich nicht annähernd die ungeheuren finanziellen Verluste kompensieren, die durch die NS-Zeit und die Emigration entstanden waren und fortan ihr Leben prägten.
Die Beziehung der Enkelkinder Amy, Dori und Gary zur Großmutter war sehr eng und sie erinnern sich, dass die Oma am Ende ihres Lebens im Gespräch mit den Söhnen wieder in die deutsche Sprache wechselte. Bei ihrer Ankunft in den USA ermutigte Elise die Familie, Englisch zu sprechen, um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Die Rothschilds ließen sich in New York, Washington Heights, nieder, einem Stadtteil, der damals von vielen deutschen Emigranten bewohnt war, weshalb man auch als ironische Antithese vom „Vierten Reich“ sprach.

Ernst Rothschild

Der ältere Bruder Ernst, geboren 1922, hatte besonders unter der Verfolgung zu leiden. Schon als kleiner Junge stand für ihn fest, nach dem Abitur Zahnmedizin zu studieren, wie ein Freund und Kollege des Vaters 1957 bestätigte.
Als Jude durfte Ernst aber nicht mehr studieren. Allein eine Lehrstelle zu finden, war fast unmöglich. Nur durch persönliche Beziehungen konnte ihn sein Vater nach der mittleren Reife am Philanthrophin in einer Lederzurichterei unterbringen, wo er Ostern 1937 eine Ausbildung begann. 1938 kam schon die Entlassung, weil die Firma arisiert wurde. Diesen Notberuf, wie Ernst es nannte, musste er auch nach der Emigration in England und Amerika ausüben, um sich selbst zu ernähren und die Familie zu unterstützen. 1948 eröffnete er mit seiner Mutter einen Waschsalon, der nach schwierigen Anfangsjahren erst ab 1954 der Familie ein lebensfähiges Einkommen ermöglichte. Es stand für Ernst außer Zweifel, dass er ohne Verfolgung nie in einem aufgezwungenen Beruf sein Geld hätte verdienen müssen, zudem noch verbunden mit schwerer körperlicher Arbeit.
In späteren Jahren betrieb Ernst ein eigenes Zigarrengeschäft, doch nachdem dort ein Feuer ausgebrochen war, arbeitete er die Jahre bis zum Ruhestand bei der Firma Dunhill auf der 5th Avenue.
Ernst heiratete Margot Ochs, ebenfalls gebürtig aus Deutschland. Sie lebten in Washington Heights, NY und haben einen Sohn Alex. Ernst starb am 11. Dezember 2011 im Alter von 89 Jahren.

Werner Rothschild

Werner war 1940 12 Jahre alt und fühlte sich vom ersten Tag an als Amerikaner, wie er betonte. Um zum Familieneinkommen beizutragen, nahm er verschiedene Jobs an. Frühmorgens vor der Schule um 5:30 Uhr trug er Brötchen aus, lieferte Fleisch in die Haushalte oder brachte die Kleidung aus der Reinigung in die Wohnungen, sieben Tage die Woche, treppauf, treppab.
Auch in seiner Schule fühlte er sich gleich als Amerikaner. Er lernte gemeinsam mit 35% Afroamerikanern und Mitschülern unterschiedlicher Nationalitäten. So etwas wie Normalität trat wieder ins Leben. Während 1938 die Klasse am Philanthropin täglich kleiner wurde, Freunde ohne Verabschiedung die Ausreise antraten, fand hier Unterricht wie gewohnt statt. Fußball war und ist Werners große Leidenschaft. Er kickte von klein auf und auch Bruder Ernst gehörte schon in Frankfurt dem Club Schild an. (Siehe Biografie Max Eis)
Nach eigenen Aussagen hatte Werner verschiedene berufliche Tätigkeiten. Nach Beendigung der Schule machte er eine Lehrerausbildung. Außerdem leitete er viele Jahre ein Sommercamp, spielte Fußball und trainierte im Alter von 22 eine Universitätsmannschaft. Zudem war er ein erfolgreicher Schiedsrichter. Er pfiff fünf internationale Spiele, unter anderem Bayern München gegen Kilmarnock Schottland in New York und den FC Santos mit Pelé. Insgesamt nahezu 70 Jahre war er sportlich aktiv.
Werner heiratete 1958 Audrie Max, die am 18. September 1929 in Allentown, Pennsylvania, geboren wurde. Kennengelernt haben sie sich während eines Urlaubs in Florida. Auch sie erlernte den Lehrberuf, arbeitete später aber in der Administration verschiedener Unternehmen. Am 5. September 2016 ist sie verstorben. Das Paar bekam drei Kinder und acht Enkelkinder. Die Familie hat einen engen Kontakt untereinander.
Gleichwohl war auch für Werner Nazi-Deutschland kein Thema, das er oft mit seinen Kindern besprach. Erst in späteren Jahren bat er seinen Sohn Gary, Produzent und Redakteur bei CNN, einen Film über die Familie zu drehen, um die Erinnerungen zu bewahren.

Heute hat Werner seinen Altersruhesitz in Florida. Dort leben viele Emigranten, es gibt einen Austausch unter den Überlebenden und jedes Jahr wird am 9. November des Novemberpogroms gedacht.
Werners Kinder sind auch durch die Erfahrungen der Familie geprägt. Sie spüren große Dankbarkeit, dass ihnen ein anderes Leben ermöglicht wurde und engagieren sich in Wohltätigkeitsprojekten, um Menschen zu unterstützen, die unterprivilegiert sind und Verfolgung erleiden mussten.

Besuch in Frankfurt – zurück in die Vergangenheit mit den eigenen Kindern

Werner, Amy, Dori und Gary besuchten Frankfurt vom 12. – 19.06.2019. Sie waren, wie sie immer wieder deutlich machten, von vielen Begegnungen sehr berührt. Beginnend mit dem ersten Get Together bis hin zum Abschlussdiner zeigten sie sich von den Angeboten und Kontakten beeindruckt:
Der Empfang im Palmengarten mit der Rede von Oberbürgermeister Peter Feldmann, die herzliche Aufnahme in der jüdischen Gemeinde, der Besuch des alten jüdischen Friedhofs, die Erinnerungsgedenkstätte Großmarkthalle, die Ausstellung „Ostend. Blick in ein jüdisches Viertel“ im Hochbunker und die Fotodokumentation „Juden in Deutschland“ von und mit Rafael Herlich, all diese Programmpunkte fanden großen Anklang bei den Rothschilds. Doch besonders erfreut und berührt waren Werner und seine Kinder, als die Familie, auf Spurensuche unterwegs, die alte Wohnung in der Eschenheimer Anlage 31 betreten durfte. Das Haus gehört heute dem St. Katharinen- und Weißfrauenstift. Ursula Poletti, die Direktorin, begleitete die Familie durch die Räume. Da kamen viele Gedanken an die Vergangenheit wieder hoch. Das Café Falk, Ecke Eschenheimer/Anlage/Oederweg, war für Werner mit süßen Erinnerungen verbunden.

Ein besonderes Highlight war das Zusammentreffen mit den Schülerinnen und Schülern des Lessing-Gymnasiums. Der Oberstufen-Leistungskurs unter Leitung ihres Lehrers Martin van Kampen hatte sich gründlich vorbereitet und die jungen Menschen waren sehr an der Lebensgeschichte von Werner Rothschild interessiert. In einem Zeitraum von zwei Stunden berichtete Werner von seiner Kindheit im Nationalsozialismus, dem Kindertransport nach England und den harten Startbedingungen in den USA. Die gebannte Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft war ihm sicher, was auch die vielen Fragen im Anschluss der Veranstaltung zeigten.

Fazit: Werner ist dankbar, dass er bei seinem Besuch die Gelegenheit hatte, jungen aufgeschlossenen Menschen seine Geschichte zu erzählen. Er weiß um die Gefahr des wachsenden Nationalismus und Antisemitismus weltweit und hofft, dass die Gesellschaft aufmerksam gegen antidemokratische Tendenzen ist und bleibt.
Für Amy, Dori und Gary war es der erste Aufenthalt in Deutschland. Sie zeigten sich beeindruckt von der Freundlichkeit der Menschen und nahmen das neue Deutschland sehr positiv wahr.
Ihren Aussagen zufolge war diese Woche ein großer Gewinn für die Rothschilds. Das galt auch in besonderem Maße für mich als ihre Begleiterin in dieser Zeit.