Geblieben ist die Angst, die sich von meiner Mutter auf mich übertragen hat und die ich bis zum heutigen Tag bekämpfe. Geblieben ist die große Dankbarkeit für die Menschen, die uns versteckt haben. Geblieben ist die Erinnerung an die Geräusche der Bombenangriffe und die Bilder brennender Häuser.
Die Vorstellung, wie meine Großeltern, meine Tante und mein Onkel deportiert wurden und umkamen, hat mich bis heute sehr bewegt. Mein Vater hat nie mit mir darüber gesprochen, vielleicht, um mich zu beschützen oder auch aus Angst, ich könnte diskriminiert werden als „Judenbalg“. Meine Mutter war bereits 1948 verstorben, weshalb ich keine Gelegenheit hatte, mit ihr darüber zu reden.
Erst im Alter von weit über 50 Jahren wollte ich mehr erfahren. Ich fuhr mit Lehrerkollegen nach Auschwitz. Diese Reise gab mir eine Erleichterung, setzte meinen „wilden“ Phantasien ein Ende. Ich begegnete der Realität und konnte nun beginnen, meine Familiengeschichte zu verarbeiten.
Es war lange nicht bekannt, wohin meine Großeltern, Tante und Onkel deportiert wurden. Neueste Nachforschungen haben ergeben, dass sie zuerst nach Izbica und dann nach Sobibor bzw. nach Belcec kamen.
Um meinen Großeltern die letzte Ehre erweisen zu können, fuhr ich nach Izbica, Sobibor und Belcec. Mich hat die lange Reise dorthin erschüttert. Was müssen die armen Deportierten erlitten haben!
Für mich sind auch die Erlebnisse nach 1945 wichtig. In Bielefeld, meiner Heimatstadt, wurde in einem Wohnhaus 1946 ein jüdischer Gebetsraum eingerichtet. Langsam kamen Frauen und Männer aus den Konzentrationslagern zurück und bildeten eine kleine jüdische Gemeinde. Meine sogenannten „Tanten“, Überlebende der Konzentrationslager, verhätschelten mich, denn ich war eines der wenigen jüdischen Kinder, die überlebt haben. Die Mehrzahl der Überlebenden, die zurückkehrten, waren auf der Durchreise z. B. in die USA oder nach Palästina. Geredet wurde in meinem Beisein über ihre Erlebnisse nicht. Nach dem Tode meiner Mutter verlor ich jeglichen Kontakt zur Gemeinde.
Die frühen Kinderjahre haben mich geprägt. Vielleicht bin ich deswegen Lehrerin und Psychologin geworden, um als eineinhalbte Generation den Nachkommen zu sagen, dass sie nicht jedem Trend nachlaufen sollten, Leuten, die etwas versprechen – gerade, was die Politik anbelangt –, nicht sofort glauben, sondern sollten erst einmal gewissenhaft prüfen und nachdenken, damit solch eine Menschenverachtung nie wieder passiert.
Als eineinhalbte Generation verstehe ich mich darum durchaus als Zeitzeugin der NS-Zeit. Über das Wort „echt“ kann man sich streiten.
Ganz anders verlief das Leben meiner Cousine Ruth. Ich verstehe auch sie als eineinhalbte Generation und nicht als zweite. Sie ist bereits in Palästina geboren und dort aufgewachsen, also keine direkte Zeitzeugin der NS-Zeit in Deutschland. Ihr Vater, der Bruder meiner Mutter, verließ Deutschland 1933, um nach Palästina auszuwandern. Ruth erlebte als Kind, sie ist 1939 geboren, den Aufbau Israels und den täglichen Kampf ihrer Eltern um ein Auskommen. Auch ihre Eltern erzählten wenig über ihre deutschen Familien. Sie kannte die Shoa nur aus Erzählungen in der Schule und von deutschen Einwanderern, die bereit waren, über ihre Erlebnisse zu berichten. Sie hatte wohl eine glücklichere Kindheit als ich. In den späteren Jahren nahm sie mit ihrem Mann politischen Kontakt zu der Partnerstadt Mainz auf, auch von ihrer Seite ein Schritt zur Versöhnung mit dem Unsagbaren. Der Besuch in Frankfurt am Main 2012 gab ihr die Möglichkeit, endlich einen tieferen Einblick in unsere Familiengeschichte zu bekommen.
Wir gehören beide der eineinhalbten Generation an, betrachten unsere Biographien aber aus verschiedenen Perspektiven. Wir haben als Zeitzeuginnen den Aufbau der Bundesrepublik bzw. Israels erlebt. Dennoch haben wir auch Vieles gemeinsam. Uns verbindet die Liebe zu unserer Familie, die uns auch die Kraft gibt, endlich offen miteinander sprechen zu können.