KURZBIOGRAPHIE

Ruth Alter

Teilnahme am Besuchsprogramm: 2012

  • geboren 1939 in Haifa, damals Palästina
  • verheiratet mit dem ehemaligen Bürgermeister von Haifa, eine Tochter
  • Tochter von Simon und Sara Eschwege aus Frankfurt am Main
  • Großeltern Hermann und Paula Eschwege aus Frankfurt am Main
  • Kusine von Edith Conrad

Edith Conrad

  • geboren 1940 in Deutschland, Überlebende des Holocaust
  • Großeltern Hermann und Paula Eschwege
  • Tochter von Joseph und Esther Ortloff, geborene Eschwege
  • lebt in der Nähe von Frankfurt am Main
  • Kusine von Ruth Alter

Ruth Alter

wurde 1939 in Palästina geboren. Ihr Vater Simon Eschwege wanderte schon 1933 nach Palästina aus. Ruth war und ist heute in Israel sozial und politisch tätig. Sie besuchte mehrmals mit ihrem Mann Elizar Alter, ehemals Bürgermeister von Haifa, die deutschen Partnerstädte Bremen und Mainz. Ruth Alter nahm 2012 an dem Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt zusammen mit ihrer Tochter Hannah Shapira teil.

Edith Conrad

wurde 1940 in Deutschland geboren. Ihr Vater war Katholik. Edith Conrad überlebte den Holocaust gemeinsam mit ihrer Mutter im Versteck. Die Großeltern Eschwege und die Tante Theresia Wolf mit ihrem Ehemann wurden deportiert und kamen im Konzentrationslager um. Edith Conrad ist die einzige der Familie Eschwege aus Frankfurt, die heute in Deutschland lebt. Die Lehrerin, Diplom-Pädagogin und Psychologin geht als Zeitzeugin in Schulen und ist sozial und politisch tätig.


Quellen:

  • Private Fotos und Dokumente von Edith Conrad
  • Fotos von Angelika Rieber und von der Lutherisch-Theologischen Hochschule in Oberursel
  • Hauptstaatsarchiv Wiesbaden

Text: Edith Conrad

Ruth Alter und Edith Conrad

Zwei Cousinen –
so fern und doch so nah

von Edith Conrad

Edith Conrad arbeitet schon seit vielen Jahren in der Projektgruppe „Jüdisches Leben in Frankfurt“ mit, organisiert Schulbesuche, begleitet Gäste. Dieses Jahr war ein besonderes, denn Edith Conrad war nicht nur Gastgeberin, sondern Angehörige, Betroffene, selbst Zeitzeugin als Überlebende. Dank Edith Conrads Initiative wurde ihre Cousine Ruth zusammen mit der Tochter nach Frankfurt eingeladen. Die beiden hatten sich nur einmal vorher gesehen. Edith Conrad ist die Einzige der Familie Eschwege, die heute in Deutschland lebt. Einerseits freute sie sich, endlich ihre Cousine hier zu sehen, andererseits wurde ihr auch schmerzlich bewusst, wie ihre Familie in alle Winde zerstreut worden war. Sie habe zwar viele Freunde hier, aber der Besuch von Ruth Alter mache ihr deutlich, dass niemand aus ihrer Familie in der Nähe sei.

Edith Conrad:
Seit vielen Jahren gehöre ich der Gruppe „Jüdisches Leben in Frankfurt“ an, die jedes Jahr ehemalige jüdische Frankfurterinnen und Frankfurter, die auf Einladung der Stadt kommen, auf der Suche nach Orten der Vergangenheit ihrer Angehörigen oder bei Schulbesuchen begleitet.
Dieses Jahr waren meine Cousine Ruth Alter und ihre Tochter Hannah Shapira aus Haifa mit dabei.
Vorher hatte ich Ruth nur dreimal in Israel für wenige Stunden getroffen und wusste nur, dass sie inzwischen eine große Familie hat. Die Tochter Hannah kannte ich bislang gar nicht persönlich.

Ruth ist in Israel eine bekannte Person, denn sie war mit dem Vizebürgermeister der Stadt Haifa verheiratet. Sie hat vor dem Besuch in Frankfurt mit ihrem Mann Elizar Alter mehrmals die Partnerstädte Mainz (Jockel Fuchs) und Bremen (Henning Scherf) besucht. Ruth wusste zwar, dass sie eine Cousine in Frankfurt hat, aber wir hatten zu dieser Zeit keinen Kontakt.

Unsere gemeinsamen Großeltern Hermann und Paula Eschwege hatten fünf Kinder: Simon, Aaron, Esther, Max und Therese (Resi). Ruths Vater Simon ist der älteste Bruder meiner Mutter Esther, der schon sehr früh (1934) nach Palästina auswanderte. Dort heiratete er Ruths Mutter Sara, die aus Hamburg stammte. Sara sprach, obwohl sie viele Jahre in Israel lebte, Zeit ihres Lebens kein Hebräisch (Ivrit). Die Mitglieder meiner Familie sprachen weiterhin deutsch. Leider wird diese Tradition in der dritten Generation nicht fortgeführt, so dass eine Konversation mit mir nur auf Englisch möglich ist. Der Grund mag darin liegen, dass Englisch als Konversationssprache ausreicht und die Familienmitglieder keinen Kontakt zu Deutschland haben.

Onkel Simon erzählte seinen Töchtern Ruth und Esther kaum etwas über seine deutsche Familie, denn seine beiden Brüder Aaron und Max waren 1938 ebenfalls nach Palästina gekommen.

Die dortige Familie hielt eng zusammen, was bis heute noch der Fall ist. Unseren Großeltern gelang die Flucht aus Deutschland nicht mehr. Sie kamen im Sommer 1942 zuerst nach Izbica und dann nach Sobibor, wo sie umkamen. Auch unsere Tante Resi und ihr Mann überlebten die Deportationen nicht.

Meine Mutter Esther heiratete kurz vor den Nürnberger Gesetzen einen Katholiken, meinen Vater. Ich kam 1940 zur Welt und wurde katholisch getauft. Das hinderte die Gestapo aber nicht, meine Mutter im September 1944 zu verhaften. Bevor meine Mutter zum Deportationsort gehen sollte, bat sie die Caritas um Hilfe. In einer „Nacht- und Nebelaktion“ versteckte diese meine Mutter unter falschem Namen bei Bauern. Ich selbst kam in ein katholisches Waisenhaus.

1945 – als der „Spuk“ vorbei war – lebte ich wieder bei meiner Mutter. Kurz darauf kam mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft heim. Es war eine glückliche Zeit. Regelmäßig ging ich mit meiner Mutter in die Synagoge, was nun hieß, dass wir sowohl Chanukka als auch Weihnachten feierten. Die ersten Kontakte zu den emigrierten Familienmitgliedern nahm meine Mutter zu Onkel Aaron auf.
Leider starb meine Mutter bereits 1948 mit nur 36 Jahren. Ihr Herz war zu schwach, nach all der bösen Zeit. 1953 heiratete mein Vater wieder, und damit endete der Kontakt mit der Verwandtschaft in Israel.

Bescheinigung der Caritas Bielefeld zum Schicksal von Esther Ortloff und ihrer Tochter Edith. Abbildung: privat

Nach dem Tode meiner Mutter wurde ich katholisch erzogen. Das Judentum war mir fremd geworden. Es hat lange gedauert, mich wieder jüdisch zu fühlen. Ich möchte aber wieder ein Mitglied meiner großen Familie werden und bin deshalb aus der katholischen Kirche ausgetreten. Trotz meiner erneuten Hinwendung zum Judentum fiel es mir schwer, Ruth und Hannah zu verstehen, die ja streng ihren Glauben leben. Den Shabbath verbrachten sie im jüdischen Altersheim in Frankfurt, wo sie von dem Rabbiner liebevoll betreut wurden. Eigentlich hätte ich ihnen so gerne am Wochenende den Rhein gezeigt. So fühlte ich mich ihnen nah und fern zugleich.

1984 flog ich mit einer Delegation aus dem Kreis Offenbach in unsere Partnerstadt Kyriot Ono, nahe Tel Aviv. Dort traf ich zum ersten Mal meine Verwandtschaft und auch Ruth. Leider waren Simon, Aaron und Max schon gestorben.

Ich habe mich sehr gefreut, als Ruth und Hannah nun auf meine Initiative hin nach Frankfurt eingeladen wurden. Es gab ja so viel zu erzählen. Wir sind in total verschiedenen Welten aufgewachsen. Ruth lebt streng ihren jüdischen Glauben, wogegen ich eher ein „Freigeist“ bin. Ich kann mich nicht einer Synagoge anschließen.
Schwierig war es, Ruth und Hannah etwas zu essen anzubieten. So kam ich auf „Grüne Soße“, die sie auch mit großem Appetit genossen. Sie sollten doch wenigstens eines der Frankfurter Traditionsgerichte kennenlernen.

Natürlich ging es auch um unsere gemeinsame Familiengeschichte. Ich zeigte Ruth und Hannah den Ort auf der Zeil, wo unser Opa sein Optiker- und Juweliergeschäft hatte: „Gebrüder Eschwege Bijouterie und Ersatzteile für Uhren und Optik“. Wir fuhren zur Wittelsbacher Allee, kurz vor dem Zoo, wo die Familie in Frankfurt gewohnt hatte. Dort liegen Stolpersteine für unsere Großeltern. So konnten wir ihrer an dem Ort gedenken, an dem sie jahrelang gewohnt hatten und verwurzelt waren, und ihnen somit die letzte Ehre erweisen.

Stolpersteine vor dem Haus der Eschweges in der Wittelsbacher Allee 4. Foto: Edith Conrad

Ich zeigte Ruth und Hannah unsere Ahnentafel, die ich bisher bis 1800 verfolgen kann. Sie wiederum zeigte mir Fotos der Familie, die in Israel nun weit über 60 Personen zählt.
Wie unterschiedlich unser Leben verlaufen ist, wurde uns beiden klar, als wir zu einem Vortrag und einem Gespräch mit Studierenden in die Lutherisch-Theologische Hochschule in Oberursel eingeladen wurden.

Dort erzählte Ruth über ihre glückliche Kindheit in Israel, über ihren Vater und ihre Mutter, die dort ein neues Leben aufbauen konnten. Mir wurde meine Kindheit noch einmal bewusst, wie sehr ich von ihr geprägt wurde, von der Trennung von meiner Mutter, unserer Zeit in der Illegalität und vom frühen Tod meiner Mutter.

Das Gespräch in der Lutherisch-Theologischen Hochschule kommentiert Professor Salzmann folgendermaßen:

„Der Besuch war besonders interessant, weil hier zwei Cousinen mit unterschiedlichem Schicksal und Lebensweg berichteten. Dabei ging es weniger um das, was sie selbst in der NS-Zeit erlebt hatten; vielmehr war die Verarbeitung der Familienschicksale das Thema, aber auch die unterschiedliche Art Auseinandersetzung der beiden Cousinen mit der Geschichte. Die Begegnung mit Zeitzeugen der zweiten Generation kann die mit der ersten Generation nicht ersetzen, hat aber ihren eigenen Wert und kann fruchtbare Denkanstöße vermitteln.
Beim Auswertungsgespräch war auffällig, dass sich auch und gerade Studierende aus dem Ausland mit ihrer je eigenen Perspektive beteiligten.“

Beide fragten wir uns, was gewesen wäre, wenn es die NS-Zeit nicht gegeben hätte. Sicher hätten wir eine große Familie in Deutschland gehabt, über die sich Oma und Opa sehr gefreut hätten. Ich war leider das einzige Enkelkind, das sie persönlich kennen gelernt haben. Ruth und ich wären nicht nur Cousinen gewesen, sondern sicherlich auch Freundinnen geworden, viel früher und nicht erst heute.
Der Aufenthalt in Frankfurt hat Ruth, ihre Familie und mich näher gebracht. Jeden Tag bekomme ich Fotos über Facebook geschickt, über die ich mich sehr freue. Ich bin sehr dankbar für die Woche mit Ruth und Hannah und hoffe, dass meine anderen Cousins und Cousinen ebenfalls bald nach Frankfurt kommen können, damit wir uns über die Lebenswege der Mitglieder unserer Familie austauschen können. Ich kann ihnen die Geschichte meiner Familie und die der Großeltern erzählen und umgekehrt von ihnen Geschichten hören.

So etwas wie die Shoa darf es nie wieder geben. Auf beiden Seiten ist es unsere Aufgabe aufzuklären, jeden Fanatismus zu bekämpfen und zu lernen, vermeintlich Fremdes zu tolerieren. Ruth und Hannah haben in Israel über ein „neues“ Deutschland berichtet und sind somit auch Botschafterinnen geworden.

Bin ich eine „echte“ Zeitzeugin?
Die 1 1/2 Generation

Was meine ich mit der eineinhalbten Generation? Es ist eine Generation, die sich zwischen der ersten Generation, die die NS-Zeit bewusst erlebt hat, und der zweiten Generation, den nach dem Krieg geborenen Kindern, befindet, also Menschen, die zwischen 1933 und 1945 geboren sind. Sie haben die Kriegsjahre bzw. das „Dritte Reich“ miterlebt, aber sie waren zu jung oder zu klein, um, wie Erwachsene, welche diese Zeit bewusst erlebt haben, „echte“ Zeitzeugen der NS-Zeit zu sein.

Was bedeutet „echte“ Zeitzeugen? „Echt“ klingt in diesem Zusammenhang etwas merkwürdig, aber Kinder, die während des Krieges geboren wurden, erlebten diese Zeit anders als Erwachsene. Ich bin 1940 geboren. Meine Mutter war Jüdin, mein Vater katholisch und Soldat. Meine Mutter und ich haben die Shoa überlebt. Meine Eltern waren Zeitzeugen des NS-Systems. Sie haben Diskriminierung und Verfolgung als Erwachsene bewusst erlebt. Als der Krieg zu Ende ging, war ich fünf Jahre alt. Was bleibt bei mir von dieser Zeit in Erinnerung?

Geblieben ist die Angst, die sich von meiner Mutter auf mich übertragen hat und die ich bis zum heutigen Tag bekämpfe. Geblieben ist die große Dankbarkeit für die Menschen, die uns versteckt haben. Geblieben ist die Erinnerung an die Geräusche der Bombenangriffe und die Bilder brennender Häuser.

Die Vorstellung, wie meine Großeltern, meine Tante und mein Onkel deportiert wurden und umkamen, hat mich bis heute sehr bewegt. Mein Vater hat nie mit mir darüber gesprochen, vielleicht, um mich zu beschützen oder auch aus Angst, ich könnte diskriminiert werden als „Judenbalg“. Meine Mutter war bereits 1948 verstorben, weshalb ich keine Gelegenheit hatte, mit ihr darüber zu reden.
Erst im Alter von weit über 50 Jahren wollte ich mehr erfahren. Ich fuhr mit Lehrerkollegen nach Auschwitz. Diese Reise gab mir eine Erleichterung, setzte meinen „wilden“ Phantasien ein Ende. Ich begegnete der Realität und konnte nun beginnen, meine Familiengeschichte zu verarbeiten.

Es war lange nicht bekannt, wohin meine Großeltern, Tante und Onkel deportiert wurden. Neueste Nachforschungen haben ergeben, dass sie zuerst nach Izbica und dann nach Sobibor bzw. nach Belcec kamen.

Um meinen Großeltern die letzte Ehre erweisen zu können, fuhr ich nach Izbica, Sobibor und Belcec. Mich hat die lange Reise dorthin erschüttert. Was müssen die armen Deportierten erlitten haben!

Für mich sind auch die Erlebnisse nach 1945 wichtig. In Bielefeld, meiner Heimatstadt, wurde in einem Wohnhaus 1946 ein jüdischer Gebetsraum eingerichtet. Langsam kamen Frauen und Männer aus den Konzentrationslagern zurück und bildeten eine kleine jüdische Gemeinde. Meine sogenannten „Tanten“, Überlebende der Konzentrationslager, verhätschelten mich, denn ich war eines der wenigen jüdischen Kinder, die überlebt haben. Die Mehrzahl der Überlebenden, die zurückkehrten, waren auf der Durchreise z. B. in die USA oder nach Palästina. Geredet wurde in meinem Beisein über ihre Erlebnisse nicht. Nach dem Tode meiner Mutter verlor ich jeglichen Kontakt zur Gemeinde.

Die frühen Kinderjahre haben mich geprägt. Vielleicht bin ich deswegen Lehrerin und Psychologin geworden, um als eineinhalbte Generation den Nachkommen zu sagen, dass sie nicht jedem Trend nachlaufen sollten, Leuten, die etwas versprechen – gerade, was die Politik anbelangt –, nicht sofort glauben, sondern sollten erst einmal gewissenhaft prüfen und nachdenken, damit solch eine Menschenverachtung nie wieder passiert.

Als eineinhalbte Generation verstehe ich mich darum durchaus als Zeitzeugin der NS-Zeit. Über das Wort „echt“ kann man sich streiten.

Ganz anders verlief das Leben meiner Cousine Ruth. Ich verstehe auch sie als eineinhalbte Generation und nicht als zweite. Sie ist bereits in Palästina geboren und dort aufgewachsen, also keine direkte Zeitzeugin der NS-Zeit in Deutschland. Ihr Vater, der Bruder meiner Mutter, verließ Deutschland 1933, um nach Palästina auszuwandern. Ruth erlebte als Kind, sie ist 1939 geboren, den Aufbau Israels und den täglichen Kampf ihrer Eltern um ein Auskommen. Auch ihre Eltern erzählten wenig über ihre deutschen Familien. Sie kannte die Shoa nur aus Erzählungen in der Schule und von deutschen Einwanderern, die bereit waren, über ihre Erlebnisse zu berichten. Sie hatte wohl eine glücklichere Kindheit als ich. In den späteren Jahren nahm sie mit ihrem Mann politischen Kontakt zu der Partnerstadt Mainz auf, auch von ihrer Seite ein Schritt zur Versöhnung mit dem Unsagbaren. Der Besuch in Frankfurt am Main 2012 gab ihr die Möglichkeit, endlich einen tieferen Einblick in unsere Familiengeschichte zu bekommen.

Wir gehören beide der eineinhalbten Generation an, betrachten unsere Biographien aber aus verschiedenen Perspektiven. Wir haben als Zeitzeuginnen den Aufbau der Bundesrepublik bzw. Israels erlebt. Dennoch haben wir auch Vieles gemeinsam. Uns verbindet die Liebe zu unserer Familie, die uns auch die Kraft gibt, endlich offen miteinander sprechen zu können.