KURZBIOGRAHIE

Claudia Gerstenhaber
Erziehungswissenschaftlerin, Buenos Aires
Tochter von Anita Gerstenhaber-Straus und
Enkelin von Siegfried „Friedel“ Straus und Else Straus, geb. Heß
mit Tochter Sabrina
Teilnahme am Besuchsprogramm 2023

Siegfried Straus
geb. 23.05.1891 in Bockenheim
gest. 22.02.1960 in Buenos Aires

Else Straus, geb. Heß
geb. 26.07.1901 in Bergen(-Enkheim)
gest. 12.01.1984 in Buenos Aires
14.06.1921 in Frankfurt-Bockenheim Eheschließung von Siegfried Straus ∞ Else Heß

Verfolgung
Erzwungene Emigration von Frankfurt nach Argentinien im Oktober 1937
Letzte Wohnadresse in Frankfurt: Adalbertstraße 62
Stolpersteinverlegung für Siegfried, Else und Anita Straus vor dem Haus Adalbertstraße 62 am 02. Juli 2023


Quellen:
Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden
Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main
Personenstandsregister:
• Geburts-, Trau- und Sterberegister der Juden von Bockenheim
• Geburts- und Trauregister der Juden in Bergen-Enkheim
• Geburts-, Heirats- und Sterberegister der Gemeinden Bergen, Bockenheim, Cronberg und Wachenbuchen
• Geburts-, Heirats- und Sterberegister der Stadt Frankfurt am Main
• Registro Civil del Estado de Distrito Federal, México. Courtesy of the Academia Mexicana de Genealogia y Heraldica.
• National Archives GB
Bad Laaspher Freundeskreis für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e. V.
Saint Sauveur-Henn, Anne: Landwirtschaftliche Kolonien deutsch-jüdischer Emigranten in Argentinien, 1933-1945. In: K. Kohut / P. von Mühlen (dir.), Alternative Lateinamerika. Die deutsche Emigration in Lateinamerika, 1933-1945. Verwuert, Frankfurt a.M. 1994
Schwarz, Ernst; Te Velde, Johan C.: Jewish Agricultural Settlement in Argentina: The ICA Experiment. In: The Hispanic American Historical Review, Vol. 19, No. 2 (May, 1939)
Stolperstein-Initiative: Opfer-Biografien zu den Stolperstein-Enthüllungen am Sonntag, 2. Juli 2023.

Fotos:
Familienarchiv im Privatbesitz von Claudia Gerstenhaber
Angelika Rieber

Presse:
Link zum Bericht über den Schulbesuch in der Taunuszeitung

Text und Recherche:
Kirsten Schwartzkopff

Claudia Gerstenhaber

Von Bockenheim nach Buenos Aires

von Kirsten Schwartzkopff

Die Familie von Claudia Gerstenhaber hat Wurzeln in Frankfurt-Bockenheim. Ihre Großeltern und die Mutter lebten in der Adalbertstraße 62 nahe dem Westbahnhof, wo Familie Straus-Heß ein Viehhandelsgeschäft betrieb. 1937 flüchteten Siegfried Straus und seine Frau Else Straus, geb. Heß mit ihrer 14-jährigen Tochter Anita – Claudias Mutter – vor der antisemitischen Verfolgung in Deutschland nach Argentinien.

Claudia Gerstenhaber lebt in Buenos Aires und nahm im Sommer 2023 mit ihrer Tochter Sabrina am Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt für Nachfahren von NS-Verfolgten und Überlebende der Schoa teil. In der Adalbertstraße wurden aus diesem Anlass drei Stolpersteine für die Familie verlegt. Claudia Gerstenhaber arbeitete vor ihrem Eintritt in den Ruhestand als Erziehungswissenschaftlerin und wollte während ihres Besuchs mit Schülerinnen und Schülern in Deutschland ins Gespräch kommen. In Begleitung ihrer Tochter Anita besuchte sie am 3. Juli 2023 die Heinrich-von-Kleist-Schule in Eschborn.

Bereits in Vorbereitung auf den Schulbesuch hatte Claudia Gerstenhaber Schüler der Oberstufe und ihre engagierten Geschichts-Lehrerinnen Frau Dejon und Frau Reckling kennengelernt. Auch an der Verlegung von Stolpersteinen für Claudias Mutter Anita Straus und ihre Großeltern Siegfried und Else Straus in der Adalbertstraße 62 am Sonntag vor dem Schulbesuch nahmen Frau Dejon und Schüler*innen der HvK teil. Gemeinsam mit Schulleiter Marc Heimann bereitete Fachbereichsleiter Heinz-Theo Krönker, der die pädagogische Vorbereitung des Schulbesuchs begleitete, den Gästen aus Argentinien in der Heinrich-von-Kleist-Schule einen herzlichen Empfang.

Familiäre Wurzeln in Bockenheim und Büdesheim: „Ehrlich und rechtschaffen“

Siegfried Straus, Claudia Gerstenhabers „Opa Friedel“, wurde 1891 in Bockenheim geboren. Seine Eltern Feist und Adelheid Straus hatten 1873 in Bockenheim geheiratet und betrieben in der heutigen Bockenheimer Friesengasse 21, die zu dieser Zeit noch Neugasse hieß, ein Viehhandelsgeschäft für „Zucht- und Fettvieh“. Mit der Metzgerfamilie Heß in der Friesengasse 22 war man eng befreundet.

Feist Straus, Siegfrieds Vater, war ein Viehhändler aus Büdesheim im Kreis Friedberg und durch Heirat mit der Metzgertochter Adelheid Kanthal nach Bockenheim gekommen. Adelheids Vater, der Metzger Löb Kanthal aus Langenselbold, hatte um 1841 die Hofreite in der Friesengasse 21 erworben. Als er 1895 im Alter von 84 Jahren starb, kam diese Liegenschaft an seinen Schwiegersohn Feist Straus. Im selben Jahr wurde die Gemeinde Bockenheim Stadtteil von Frankfurt am Main.

Die Gräber von Friedel Straus‘ Großeltern Löb und Mariane Kanthal finden sich auf dem Jüdischen Friedhof in der Sophienstraße in Bockenheim. Die hebräische Inschrift auf dem Grabstein der 1865 verstorbenen Mariane Kanthal, geb Braun lautet: „Die Frau war ehrlich in ihren Taten. Sie ging ihr ganzes Leben lang einen rechtschaffenen Weg und hoffte, sich ihren Platz in der kommenden Welt zu verdienen.“
Friedel hatte drei ältere Geschwister: Seine 1874 geborene Schwester Auguste Straus und die beiden älteren Brüder Adolf Straus (*1877) und Hermann Straus (*1882).

Schulzeit und Ausbildung von Opa Friedel

Siegfried Straus besuchte die Liebig-Realschule in der Falkstraße in Bockenheim, später das Hassel‘sche Institut, eine private sechsklassige Realschule mit Standorten in der Alten und Neuen Schlesingergasse, wo er auch Englisch und Französisch lernte. Nach der Obertertia verließ er die Schule und absolvierte eine kaufmännische Lehre bei der Firma ‚Landauer & Stern, Herren- und Damenhüte, Stroh u. Filz, Blumen, Federn, Nouveautés Engros‘ in der Kaiserstraße.

Seine Militärdienstpflicht leistete Siegfried Straus von 1910 bis 1912 im Nassauischen Feldartillerie-Regiment Nr. 63 ab. Anschließend war er als Reisender für die Firma ‚Stein & Hirsch, Damenhüte, Blumen, Federn‘ in der Weserstraße tätig.

Kriegsteilnehmer im 1. Weltkrieg

Bei Kriegsausbruch 1914 wurde Siegfried Straus eingezogen und nahm als Kanonier der Feldartillerie am 1. Weltkrieg teil. 1915 wurde er durch einen Granatsplitter im rechten Oberschenkel verwundet. Für Tapferkeit und militärische Leistungen mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, litt er an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzung bis ins hohe Alter.

Nach Kriegsende 1918 trat Friedel als kaufmännischer Angestellter in die Firma ‚Albert Straus‘ in der Kurfürstenstraße 20 ein. Diese „Fouragehandlung“ handelte mit Getreide, Futter- und Düngemitteln. Albert Straus (*1868) war sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits Friedels Cousin. Alberts Mutter Rosa (Recha) Straus, geb. Kanthal (1845 – 1904) war eine ältere Schwester von Friedels Mutter Adelheid. Alberts Vater Moses Straus (1841 – 1907) war wiederum ein Bruder von Friedels Vater Feist Straus und wie dieser Viehhändler. Auch der Onkel Moses Straus wohnte bis zu seinem Tod 1907 in der Friesengasse 21.

Vorfahren von Else Straus, geb. Heß: Viehhändler in Bergen und Laasphe

Im Mai 1920 starb Siegfrieds Vater Feist Straus in Bockenheim. Nach dessen Tod heiratete Friedel im Juni 1921 die in Bergen (heute: Frankfurt, Bergen-Enkheim) geborene Else Heß. Ihr Vater Aaron Heß (*1867) war ebenfalls Viehhändler und gehörte zu einer in Bergen weit verzweigten Handelsfamilie. Sein Vater, der Viehhändler Raphael Heß III, dessen Geschäft Aaron übernommen hatte, wurde 1820 in Bergen geboren, wo er 1880 an Magenkrebs verstarb. Aus zwei Ehen hinterließ er eine Vielzahl von Kindern.

Raphael Heß III hatte nach dem Tod seiner ersten Frau 1863 in zweiter Ehe Bettchen Präger geheiratet. Aaron Heß war eines der Kinder aus dieser zweiten Ehe. Seine Mutter Bettchen stammte aus Laasphe im Wittgensteiner Land in Westfalen.

Laasphe gehörte zum Wahlkreis Siegen-Wittgenstein-Biedenkopf, in dem der antisemitische Hofprediger Adolf Stoecker (1835 – 1909) von 1881 bis 1893 und erneut von 1898 bis 1908 zum Reichstagsabgeordneten gewählt wurde. Stoecker erreichte hier – im Gegensatz zu den wahlpolitischen Misserfolgen seiner Bewegung und seiner Person im übrigen Deutschen Reich – regelmäßig ungewöhnlich deutliche Mehrheiten.

In Laasphe waren Juden seit dem 17. Jahrhundert ansässig. Der jüdische Bevölkerungsanteil lag 1846 bei 7%. Juden waren überwiegend als Metzger und Viehhändler im Ort tätig.
Zu den wenigen Berufen, die Juden in Deutschland ausüben durften, bevor sie 1871 die volle rechtliche Gleichstellung erlangten, gehörte der Viehhandel. 1937 wurde ihnen auch die Betätigung als Viehhändler verboten, nachdem jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger seit 1933 bereits in vielen anderen Berufen diskriminiert wurden und unter Berufsverboten litten.

In einigen Regionen war Viehhandel aus mehreren Gründen eine jüdische Domäne: Aufgrund strenger ritueller Schlachtvorschriften (Schächtung) erwarben Mitglieder jüdischer Familien regelmäßig besondere Kenntnisse bei der Begutachtung und in der Qualitätsprüfung von Vieh. Zudem besaßen viele aufgrund traditioneller und familiärer Handelsbeziehungen Einblick in den überregionalen Handelsverkehr für Schlacht-, Zucht- und Nutzvieh und kannten die Viehbestände in unterschiedlichen Regionen ebenso wie die Nachfrageseite.

Im Bereich der Zahlungsmodalitäten boten die Zahlungsbedingungen im Handel mit jüdischen Viehhändlern für Bauern häufig Vorteile. So gewährten jüdische Viehhändler im Zweifel Kredit, akzeptierten oder vermittelten Tauschgeschäfte – etwa Schlacht- gegen Zuchtvieh – und zahlten meist bar „auf die Hand“. Für viele Bauern war eine Barzahlung ohne Zahlungsaufschub ein entscheidender Vorteil zur Sicherung der eigenen Existenz.

Die Kronberger Seite der Familie

Elses Mutter Bertha Heß, geb. Strauß, stammte aus der Kronberger Familie Strauß. Sie wurde 1875 als Tochter von Bernhard Strauß und Fanny Strauß, geb. Heß in Kronberg geboren. Bereits 1849 waren in dem nach der neuen Verfassung gewählten Kronberger Bürgerausschuss zwei jüdische Kaufleute vertreten, in der ersten Kronberger Stadtverordneten-Versammlung findet sich auch ein Kaufmann Bernhard Strauß.

Berthas ältere Schwester Melina Strauß (*1871) hatte 1895 Friedels Cousin Albert Straus geheiratet und war zu diesem nach Frankfurt-Bockenheim gezogen. Nach ihrer Heirat mit Aaron Heß im Jahr 1900 in Kronberg zog auch Bertha Heß, geb. Strauß zu ihrem Ehemann nach Frankfurt, zunächst nach Bergen, wo die Tochter Else Heß 1901 geboren wurde. Später zog die kleine Familie nach Bockenheim.

Im November 1907 beantragte die jüdische Gemeinde in Kronberg bei der Regierung in Wiesbaden ihre Auflösung, da sie nur noch aus drei Personen bestand. Zuletzt lebten 1908 nur noch die Familien Bernhard Strauß und Heymann Strauß in Kronberg.

Schließlich zogen auch Bernhard und Fanny Strauß von Kronberg nach Bockenheim in die Nähe ihrer beiden Töchter Bertha Heß und Melina Straus und ihrer Enkel. Als Bernhard Strauß im April 1915 mit 73 Jahren starb, lebte das Ehepaar in der Robert-Mayer-Straße. Nach dem Tod ihres Mannes wohnte seine Witwe Fanny Strauß bis zu ihrem Tod 1919 in der Kurfürstenstraße. Der familiäre Zusammenhalt war eng.

Das Viehhandelsgeschäft „Straus – Heß“ in Bockenheim

Als Friedel Straus und Else Heß im Juni 1921 heirateten, waren Elses Vater Aaron Heß, Adalbertstr. 62, und Friedels älterer Bruder Adolf Straus, der in der Leipziger Str. 49 wohnte, die beiden Trauzeugen. Adolf Straus führte seit etwa 1910 die väterliche Viehhandlung in der Friesengasse 21 überwiegend allein. Während des 1. Weltkriegs hatten Adolf Straus und Aaron Heß ihre Viehhandelsgeschäfte weitgehend fusioniert und in der kriegsbedingt schwierigen Versorgungslage für das Frankfurter Proviantamt und die Versorgung der Frankfurter Bevölkerung eine wichtige Rolle gespielt.

Nach der Heirat mit Else Heß wurde auch Siegfried Straus mit einem Anteil von 20 % Teilhaber in der Viehhandelsgesellschaft seines Schwiegervaters und seines Bruders, während Schwiegervater Aaron Heß und Bruder Adolf Straus an dem gemeinsamen Unternehmen nun zu gleichen Teilen je 40 % hielten. Das Grundstück in der Adalbertstraße gehörte Aaron Heß. Das jung verheiratete Ehepaar wohnte zunächst in der Nauheimer Str. 6, bevor die junge Familie zu den Schwiegereltern in die Adalbertstraße zog.

Das Viehhandelsgeschäft „Straus/Heß“ setzte wöchentlich etwa 40 bis 50 Stück Vieh, je zur Hälfte Milch- und Schlachtvieh, um. Dreimal wöchentlich wurden Viehmärkte in der näheren Umgebung, aber auch in Städten wie Dortmund und Hannover besucht. Else Straus arbeitete im Unternehmen mit und war insbesondere in Abwesenheit ihres Ehemannes und ihres Vaters für Verwaltungsarbeiten im Büro und die Abwicklung der Bankgeschäfte verantwortlich.

1923 wurde die Tochter Anita Adelheid geboren. Von dem engen Verhältnis zwischen Vater Friedel und Tochter Anita und der Freude von Mutter und Großmutter über ihre Enkelin zeugen Fotos aus dem Familienarchiv.

Nationalsozialistischer Boykott und die Folgen

Bereits die ersten nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen gegen jüdische Unternehmer 1933 führten zu einem substanziellen Rückgang der Umsätze im familiär geführten Viehhandelsgeschäft. Unter dem Druck der Ereignisse nahm sich die zunehmend verzweifelte Bertha Heß am 9. November 1933 in ihrer Wohnung in der Adalbertstraße das Leben. Sie war 58 Jahre alt.

Im April 1935 machte Friedel Straus seinen Führerschein. 1935 war das noch möglich. Ein Führerschein war eine zusätzliche Qualifikation in potenziellen Exilländern. Anfang Dezember 1938 verfügte Heinrich Himmler, Chef der deutschen Polizei und Reichsführer SS einen Erlass, demzufolge Juden „unzuverlässig und ungeeignet zum Halten und Führen von Kraftfahrzeugen“ seien. Die Fahrerlaubnis wurde jüdischen Deutschen mit sofortiger Wirkung entzogen, das Halten von Personenkraftwagen und Krafträdern verboten. Führerscheine und Kraftfahrzeugscheine der in Deutschland wohnenden Juden deutscher Staatsangehörigkeit waren unverzüglich, spätestens bis zum 31. Dezember 1938, bei Zulassungsstellen und Polizeirevieren abzugeben.

Während der Entzug des Führerscheins für Exilländer wie Argentinien, Brasilien und die USA, die kaum über eine europäisch vergleichbare Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs verfügten, ein weiteres Auswanderungshindernis bedeutete, kam er für noch in Deutschland lebende Juden häufig einem Berufsverbot gleich.

Tod des Großvaters Aaron Heß und Emigration nach Argentinien

Elses Vater Aaron Heß starb am 3. März 1936. Seither trug die Firma den Namen ‚A. Straus – S. Straus‘. Friedels Bruder Adolf Straus, der langjährige Mitinhaber, wohnte inzwischen ebenfalls in der Adalbertstr. 62. Eigentümer der Liegenschaft wurde nach dem Tod seines Schwiegervaters Siegfried Straus.

Spätestens jetzt forcierten Siegfried und Else Straus ihre Bemühungen um Visa für eine Emigration. 1937 konnten sie mit ihrer 14-jährigen Tochter Anita endlich nach Argentinien flüchten. Die Beschaffung legaler Visa für die Einreise nach Argentinien hatte längere Zeit in Anspruch genommen. Dasselbe galt für die mit der Ausreise aus Deutschland verbundenen finanziellen Verpflichtungen wie die Zahlung von „Reichsfluchtsteuer“ und die Bewältigung bürokratischer und organisatorischer Hürden. Auch die Immobilie in der Adalbertstraße musste zwangsweise verkauft werden.

Am 8. Oktober 1937 verließ Familie Straus an Bord der „Monte Olimpia“ Deutschland. Einen Monat später kam sie in Buenos Aires an.

Hatte Argentinien zwischen 1918 und 1933 noch 79.000 jüdische Immigrant*innen ins Land gelassen, so wurde das offizielle Kontingent für jüdische Einwanderung zwischen 1933 und 1943 auf 24.000 Personen reduziert. Weitere 20.000 Jüdinnen und Juden reisten in diesem Zeitraum illegal nach Argentinien ein. Prozentual zur Bevölkerung nahm Argentinien dennoch mehr jüdische Flüchtlinge aus Deutschland auf als die Vereinigten Staaten.

Ermöglicht wurde die Einreise der Familie Straus durch ein Visum mithilfe der Jewish Colonization Association (JCA). Die JCA war 1891 von dem französisch-deutschen Philanthropen Baron Maurice de Hirsch (Moritz von Hirsch, 1831-1896) zunächst mit dem Ziel gegründet worden, die Massenauswanderung von Juden aus Russland und anderen osteuropäischen Ländern zu erleichtern. Die JCA kaufte in verschiedenen Einwanderungs-ländern Ländereien und siedelte dort jüdische Einwanderer in landwirtschaftlichen Kolonien an.

Ursprünglich suchte die JCA bevorzugt nach Emigrationskandidaten, die Erfahrung in der Landwirtschaft hatten. Doch nur wenige deutsche Juden waren Landwirte, die nicht umgeschult werden mussten.
Dokumente in den JCA-Archiven belegen, dass ab 1933 die Ansiedlung deutscher Juden in landwirtschaftlichen Kolonien ein Schlupfloch bot, um gesetzliche Restriktionen zu umgehen. Daher wurden die letzten drei Gründungen der JCA in Argentinien besonders wichtig für verfolgte deutsche Jüdinnen und Juden. Dazu gehörte auch die im März 1935 gegründete deutsch-jüdische „Colonia Avigdor“. Die Unterbringung in Avigdor war für viele verfolgte jüdische Familien aus Deutschland die einzige Möglichkeit, noch ein Visum für Argentinien zu erhalten.

Ankommen in Argentinien

Nach ihrer Ankunft in Buenos Aires mussten Immigranten wie die Familie Straus meist in überfüllten „Einwandererhotels” übernachten, ihre Weiterreise selbst finanzieren und etwa 700 Kilometer mit Zug, Fähre und Lastwagen fahren. Diese Reise konnte noch einmal mehrere Tage dauern.

In der neugegründeten Kolonie wohnten die Neuankömmlinge, die städtischen Komfort gewöhnt waren, unter äußerst primitiven Bedingungen in Häusern mit gestampftem Boden und Petroleumlampen. Die Wege waren nicht geteert. Statt einer Stunde bei Trockenheit konnte es bei Regen in Avigdor sechs bis acht Stunden dauern, um das Zentrum der Siedlung zu erreichen. Zur nächsten Bahnstation in Bovril war man unter solchen Bedingungen zwei bis drei Tage unterwegs.

Familie Straus lebte zunächst unter ärmlichen Verhältnissen mit sechs Personen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Avigdor. Im Gegensatz zur Mehrheit der deutsch-jüdischen Kolonisten, die keinerlei landwirtschaftliche Erfahrung hatten, war Friedel Straus als Viehhändler zumindest grundsätzlich mit Viehhaltung vertraut.

Die ländliche Isolation machte Kolonisten aus einem städtischen Umfeld wie Frankfurt ebenso zu schaffen wie die wirtschaftlich schwierigen Verhältnisse bei der Agrarkolonisation, der Inkulturnahme des landwirtschaftlich bislang nicht genutzten Landschaftsraumes: Das Ausbringen von Saatgut war nicht möglich, weil der Urwald nicht gerodet war. Die Einnahmen hingen von Witterungsverhältnissen und wechselnder Nachfrage ab und waren nicht stabil. Die Ernten waren durch Seuchen gefährdet. Am schlimmsten waren nach allen Zeugnissen Heuschrecken, die ganze Felder innerhalb von wenigen Minuten vernichten konnten.

Nach einem Jahr zog Familie Straus 1938 daher nach Basavilbaso in Entre Ríos. Basavilbaso war bereits in den 1890er Jahren gegründet worden. Dort hatte die JCA vornehmlich jüdische Emigranten aus der Ukraine (Kherson Oblast) und Bessarabien (heute: Moldavien) angesiedelt.

Erst 1945 konnte Familie Straus schließlich nach Buenos Aires umziehen, wo Siegfried Straus Angestellter der Firma ‚Hugo Straus, Fabrik für Isoliermaterial‘ in Ramos Meija wurde und dann in einem Schlachthaus arbeitete, ehe er ab 1950 bei der Firma ‚Frigorifico La Floresta‘ in Buenos Aires tätig wurde.

Tochter Anita Straus heiratete in Buenos Aires und arbeitete nach ihren ersten Erfahrungen in der Landwirtschaft in einem kaufmännischen Beruf. Eine höhere Schulbildung hatte sie aufgrund der erzwungenen Emigration mit kaum 14 Jahren in Argentinien nie abschließen können.

Mit ihrem Mann hatte Anita Gerstenhaber-Straus zwei Töchter. Eine ihrer Töchter ist Claudia Gerstenhaber, die selbst zwei Kinder hat und von ihrer Tochter Sabrina nach Frankfurt begleitet wurde.

Freundesfamilie aus Bockenheim in Argentinien

1939 war der Familie Straus die seit langem befreundete Familie Adler-Heß aus Frankfurt nach Argentinien gefolgt. Die Familien kannten sich aus der gemeinsamen Zeit in der Bockenheimer Friesengasse. Friedel Straus und die vier Jahre jüngere Amalie „Mally“ Adler, geb. Heß waren dort in unmittelbarer Nachbarschaft zusammen aufgewachsen. Die Nachfahren der Familien Straus und Heß betrachten sich bis heute als Teil einer erweiterten „Freundesfamilie“.

Familienschicksale – Emigrantenschicksale

Siegfried Straus starb 1960 in Buenos Aires. Seine Frau Else Straus starb dort 1984 und ihre Tochter Anita Gerstenhaber, geborene Straus, verstarb 1997.

Friedels verwitweter Tante Auguste „Gustel“ Cahn, geb. Straus gelang die Flucht zu ihren beiden Söhnen ins Exil nach England, wo sie 1953 starb.
Friedels Bruder und Geschäftspartner Adolf Straus gelang mit seiner zweiten Ehefrau Paula Straus, geb. Strauß, (*1894 in Wachenbuchen) Anfang Mai 1939 ebenfalls die Flucht nach England. Da beide weder über ausreichende Sprachkenntnisse verfügten noch eine Arbeitserlaubnis erhielten, waren sie in London auf Unterstützung durch ihre beiden Kinder und einen Neffen angewiesen. Adolf Straus starb 1947 in London. Seine Frau Paula überlebte ihn um 40 Jahre. Sie starb 1987 in Hampstead.

Spät gelang 1940 auch Friedels Bruder Hermann Straus und seiner Frau Bella erst nach Kriegsbeginn noch die Flucht nach Argentinien, wo Hermann 1962 in Buenos Aires starb.

Friedels Cousin Albert und seine Frau Melina Straus schließlich gelangten durch Flucht nach Mexiko City, wo Elses Tante Melina im Mai 1940 starb. Ihr Ehemann, Friedels Cousin Albert, starb 81-jährig im August 1949 ebenfalls in Mexico City.

Schulbesuch an der Heinrich-von-Kleist Schule in Eschborn Juli 2023

Bei ihrem Besuch der Heinrich-von-Kleist-Schule im Rahmen des Frankfurter Besuchsprogramm für Nachfahren von NS-Verfolgten und Überlebende der Schoa teilte Claudia Gerstenhaber ihre lebendigen Erinnerungen an ihren „Opa Friedel“, ihre Oma Else Straus, geb. Heß und ihre Mutter Anita mit Schüler*innen aus zwei Geschichtskursen der Oberstufe (Qualifikationsphase II).

Die Oberstufen-Schüler*innen zeigten sich berührt, nachdenklich und beeindruckt von dem Gespräch mit ihr. Nachdrücklich blieb ihnen u. a. im Gedächtnis, dass sich der mit einem Eisernen Kreuz ausgezeichnete Weltkriegsteilnehmer Friedel Straus als patriotischer jüdischer Deutscher verstand. Das Eiserne Kreuz und seinen Wehrpass nahm er mit ins argentinische Exil. Beides befindet sich bis heute im Familienbesitz. Eine Grafik des Frankfurter Römers wurde von Claudias Mutter Anita Straus stets in Ehren gehalten und hängt heute in Claudia Gerstenhabers Wohnung in Buenos Aires.

Claudia Gerstenhaber beantwortete ausführlich auch Fragen der Schüler*innen nach den Herausforderungen beim Aufbau einer neuen Existenz im argentinischen Exil. Sie ging auf die kulturelle Diversität des Einwanderungslandes Argentinien ebenso ein wie auf die landschaftliche Schönheit des Landes. So zeigte sie Fotos zur landschaftlichen Vielfalt ihrer Heimat von den Iguazú-Wasserfällen im Dreiländereck Argentinien–Paraguay–Brasilien über die Anden bis zu den Pampas und dem Südpatagonischen Eisfeld. Argentinien ist nach Brasilien der zweitgrößte Flächenstaat Südamerikas und mit einer Fläche von 2.780.400 km² fast achtmal so groß wie Deutschland.

Die Schüler Louis Kombol und Christian Hess aus dem Geschichte-Leistungskurs berichteten, dass sie noch einmal einen anderen, sehr viel persönlicheren und emotionaleren Zugang zu den historischen Ereignissen bekommen hätten. „Das schafft kein noch so gutes Geschichtsbuch“, so die beiden jungen Historiker.

Claudia Gerstenhaber fasste Ihren Schulbesuch so zusammen: „Die Kinder und Lehrer*innen der Heinrich-von-Kleist-Schule waren die wunderbarsten! Diese großen ‚Kinder‘, die interessiert Fragen stellten, halfen mir zu verstehen und mehr über meine Familie zu erfahren. Eine wunderschöne und unvergessliche Erfahrung!“