KURZBIOGRAPHIE

Renee Halberg

Renee Halberg, geb. 1952 in New York
Die Familie stammte ursprünglich aus Buczacz in Galizien/Österreich-Ungarn, nach dem 1. Weltkrieg Polen, heute Ukraine

Vater: Fritz (Fred) Halberg, 1903 in Buczacz – 1963 in New York
Mutter: Frieda Halberg, geb. Majerowicz, 1921 in Dukla (Polen) – 1988 in New York
Geschwister des Vaters: Selma, verh. Balsam (1896-1991), Rachel Rosel, verh. Nevel (1902-1985) und Mathilde (Tilly), verh. Gewürz (1907-1994)
Großvater: Isaak Leib Halberg 1871 in Buczacz – 1944 in New York
Großmutter: Ettel, geb. Hölzel, 1871 in Czortkov – 1955 in New York
Bruder des Großvaters: Max Halberg, 1874 in Buczacz – 1910 in Frankfurt
Urgroßvater: Baruch Halberg 1846-1936 in Buczacz
Urgroßmutter: Sarah Necha 1850-1936 in Buczacz
Wohnadressen in Deutschland: zunächst in Offenbach, dann verschiedene Adressen in Frankfurt, zuletzt in Frankfurt Zeil 6/Ecke Seilerstraße
Geschäft von Fritz Halberg: Drogerie und Parfümerie

Besuchsprogramm: 2023


Quellen:
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden:
518, 13548 (Fred Halberg)
518, 13549 (Isaak Halberg)

Diverse private Fotos und Dokumente

Recherchen und Text:
Regine Ahrens-Drath

Renee Halberg (*1952) und ihre Frankfurter Familie

Von Galizien über Frankfurt nach New York

Regine Ahrens-Drath

Renee Halberg war im Juni 2023 gleichzeitig mit anderen „Zweitzeugen“ jüdischen Lebens eine Woche lang Gast der Stadt Frankfurt am Main. Da die meisten der ehemaligen jüdischen Frankfurter Bürgerinnen und Bürger nicht mehr leben, nehmen seit einigen Jahren vorwiegend deren Kinder oder Enkel am Besuchsprogramm teil, deshalb „Zweitzeugen“.
Geschichten und Anekdoten haben Renee Halbergs Leben begleitet, allerdings ganz unsystematisch und lückenhaft. Heute kann sie niemanden mehr direkt befragen und ist darauf angewiesen, aus den Puzzlesteinen der Erinnerung ein möglichst stimmiges Bild zu rekonstruieren. So war sie gespannt, was an Spuren des Lebens ihrer Familie in Frankfurt überhaupt noch aufzufinden sein würde.

Kindheit und Jugend in New York

Renee ist im New Yorker Stadtteil Washington Heights aufgewachsen und hat ihre Kindheit und Jugend dort verbracht. Es war eine Gegend, die stark geprägt war von jüdischen Emigranten aus Deutschland, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren, viele von ihnen kamen aus Frankfurt am Main. In ihrer Familie wurden verschiedene Sprachen gesprochen: Der Vater sprach mit seinen Schwestern Deutsch, mit seiner Frau – wenn es nicht für die Ohren der Kinder bestimmt war – jiddisch oder polnisch und natürlich englisch, um den Kindern eine optimale Integration in die amerikanische Gesellschaft zu sichern. Renee, die älteste von vier Geschwistern, wuchs in einer Welt der Emigranten auf, lernte deren Kultur und Alltagsleben kennen, aber wechselte während ihrer Schulzeit doch auf eigenen Wunsch von einer jüdischen in eine staatliche Schule. Die finanziellen Verhältnisse waren ärmlich. Der Vater war durch die Entrechtung in Deutschland, die Flucht und das Exil bedrückt und mutlos geworden, so dass ihm kein erfolgreicher beruflicher Neuanfang gelang. Als er 1963, mit 59 Jahren starb, musste die Familie von Sozialhilfe leben.

Renee entschied sich für eine Ausbildung im sozialen Bereich und arbeitete schließlich sehr erfolgreich viele Jahre als Master of Social Work an einer großen Klinik, leitete Teams, organisierte Hilfe und Beratungen und gab Fortbildungskurse. Im Lauf der Jahre erschien ihr das Leben in der Metropole zu anstrengend, und so verließ sie New York City und übersiedelte nach South Carolina, wo sie nach etlichen Jahren der Berufstätigkeit nun im Ruhestand mit ihrem Ehemann in Chapel Hill lebt. Sie hat nun Zeit auf Spurensuche zu gehen und ist eng vernetzt mit anderen Familienmitgliedern, die ebenfalls recherchieren.

Der Anfang in Galizien

Die Familie Halberg (oder auch Halpern) stammt ursprünglich aus dem Ort Buczacz, der heute in der westlichen Ukraine liegt. Vor dem 1. Weltkrieg gehörte diese Gegend, das ehemalige Galizien, zum habsburgischen Kaiserreich Österreich Ungarn, bis Buczacz ab 1918 zu Polen kam. Renees Urgroßeltern, Baruch Halberg (*1846) und seine Frau Sarah Necha Halberg (*1850), starben beide 1936 in Buczacz, wovon ihre Gräber auf dem dortigen jüdischen Friedhof zeugen.

Baruch und Sarah Necha hatten mehrere Kinder, unter anderen den Sohn Isak (Isaak) Leib Halberg (geboren 1871). Er war Renees Großvater. Dieser kam wahrscheinlich 1909 oder 1910 nach Frankfurt. Er war verheiratet mit der gleichaltrigen Ettel Halberg, geborene Hölzel, die aus Czortkov stammte, einer Stadt ungefähr 40 Kilometer östlich von Buczacz, ebenfalls in Galizien. Isaak war von Beruf Kaufmann. Er und seine Frau Ettel hatten vier Kinder: Selma (geb. 1896), Rachel Rosel (geb. 1902), Fritz (geb. 1903) und Mathilde, genannt Tilly (geb. 1907).
Fritz Halberg ist Renees Vater.

Die Großeltern verlassen die Heimat: Angekommen in Frankfurt

Die Familie lebte zunächst in Offenbach, das sich in dieser Zeit Einwanderern aus Osteuropa gegenüber aufnahmebereiter erwies, dann seit 1910 in Frankfurt. Die historischen Adressbücher verzeichnen verschiedene Adressen der Familie, allesamt im Osten der Altstadt. Schließlich fand sie im Haus Zeil 6, dem Eckhaus zur Seilerstraße, ihr Zuhause.

Dort betrieb die Familie Anfang der 30er Jahren zwei koschere Geschäfte: Isak einen Lebensmittelladen und sein inzwischen erwachsener Sohn Fritz eine Drogerie und Parfümerie.

Dort betrieb die Familie Anfang der 30er Jahren zwei koschere Geschäfte: Isak einen Lebensmittelladen und sein inzwischen erwachsener Sohn Fritz eine Drogerie und Parfümerie. Isak war sogar Besitzer des stattlichen Hauses und hatte seine Wohnung über den Läden. Zu Beginn des Jahres 1933 gab es noch weitere Läden im Haus, unter anderen eine Filiale der Kaffeehandlung Witwe Hassan. (siehe Kapitel Ron Sommers und Kapitel Margot Sommer).

Halbergs schienen in sicheren Verhältnissen angekommen zu sein. Die Familie war gläubig und ging regelmäßig zum Gottesdienst in die Synagoge, die Kinder hatten in Frankfurt die Schule besucht.
Nicht weit entfernt in der Fischerfeldstraße 4 lebte der spätere Ehemann von Fritz‘ Schwester Tilly, Elias Gewürz. Max Halberg, der Bruder von Renees Großvater Isak, wohnte mit seiner Frau Toni (Tauba) ganz in der Nähe im Wollgraben 11. Max und Toni waren schon seit 1902 in Frankfurt gemeldet. Nach dem Tod von Max führte Toni die Eierhandlung ab 1911 im Wollgraben weiter.
Geschwister der Mutter Ettel Halberg, geborene Hölzel, hatten sich ebenfalls mit ihren Familien in Frankfurt niedergelassen: David Hölzel mit einem Kolonialwarenladen in der Langen Straße, Esther Baer, geborene Hölzel und ihr Ehemann Bernhard Baer in der Fahrgasse 140. So gab es inzwischen ein Netz von Familienmitgliedern in Frankfurt und man war im selben Stadtviertel verbunden.

Die Wohnungen befanden sich zum großen Teil im Fischerfeld, dem Umkreis der ehemaligen Judengasse – ein Stadtviertel, das in den Jahren vor 1933 stark vom Leben jüdischer Alltagskultur bestimmt wurde. Es gab mehrere Synagogen, wohltätige Einrichtungen der jüdischen Gemeinschaft, Krankenhäuser, Arztpraxen, Kanzleien und zahlreiche Handwerksbetriebe und Geschäfte, die von Juden geführt wurden. Am Schabbat und besonders den hohen Feiertagen waren die Straßen geprägt von Familien, die zu den Gottesdiensten oder von dort wieder nach Hause strebten.
Das ging so bis 1933.

Wie ging es weiter im Haus Zeil 6?

Doch gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren die beiden Läden der Halbergs vom Boykott der jüdischen Geschäfte betroffen. Fritz Halberg wurde körperlich drangsaliert, war verzweifelt und traumatisiert von den Verfolgungen. Die finanziellen Verhältnisse waren schlecht und das Haus inzwischen mit Hypotheken belastet.
Die Familie realisierte sehr schnell, wie gefährlich ihr Leben in Frankfurt war, und beschloss, Deutschland zu verlassen. Es gibt eine Videoaufzeichnung, bei der Tante Tilly, die Schwester des Vaters, viele Jahre später (1980) erzählt, wie die Familie zu Hause gemeinsam beratschlagt hat, ob und wie sie zusammen das Land verlassen könnten. Die älteste Schwester Selma war bereits in den zwanziger Jahren in die USA ausgewandert. Die zweite Schwester Rosel lebte mittlerweile in Barcelona. Tilly setzte alles daran, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. So kam es, dass sie bereits am 31. März 1933 mit ihrem Verlobten Elias Gewürz und ihrem Bruder Fritz nach Barcelona abreiste. Die Eltern waren nicht zu überzeugen. Sie wollten das, was sie sich mit Erfolg in Frankfurt aufgebaut hatten, nicht einfach aufgeben. Wie so viele glaubte besonders die Mutter, dass das Treiben der Nazis nicht lange dauern würde. Doch Tilly ließ nicht locker: Sie feierte im Juni 1933 in Barcelona ihre Hochzeit mit Eli Gewürz und ließ ihre geliebten Eltern wissen, dass sie ihnen ewig böse wäre, wenn sie nicht nach Spanien zur Hochzeit kämen. Das wirkte tatsächlich, so dass Isak und Ettel tatsächlich ebenfalls nach Barcelona kamen und zu ihrer eigenen Sicherheit nicht mehr nach Frankfurt zurückkehrten.

Nach der Auswanderung der Familie Halberg sollte eigentlich ein nicht jüdisches Ehepaar für 125 Reichsmark monatlich das Lebensmittelgeschäft mieten. Für die Einrichtung des Ladens zahlten sie 600,- Reichsmark. Es gab, noch während Halbergs den Laden räumten, Streit, da der ursprüngliche Übernahmetermin nicht eingehalten wurde oder werden konnte. Der boshafte Ton, in welchem diese Auseinandersetzung stattfand, zeigt, wie die Notlage der Halbergs ausgenutzt wurde und welches politische Klima bereits herrschte. Nachdem Halbergs das Land verlassen hatten, teilte der Nachmieter dem Verwalter des Hauses, Oskar Lauer, in einem Brief mit: „Auf keinen Fall zahlen wir Miete für eine Zeit, wo der Laden für uns gar nicht frei war. … – Man hat schon allein vierzehn Tage gebraucht, bis man diesen Saustall ausgemistet hat, die Käfer haben einen ja bald aufgefressen.“ Und weiter: „…ist dann ein neuer Mietvertrag angefertigt worden, der ab 1. Mai 1933 in den ersten drei Monaten mit je 100,- Reichsmark Miete zu zahlen ist und vierteljährigem Kündigungsrecht bei Unrentabilität. Diesen Vertrag hat aber Herr Halberg nicht unterschrieben, da er inzwischen abgereist ist. Wir sehen uns veranlasst von dem Kündigungsrecht Gebrauch zu machen, … da es gänzlich ausgeschlossen ist, diese hohe Miete bei der heutigen schlechten wirtschaftlichen Lage aus dem Geschäft herauszuholen. – Heute kommen alle Hausherrn ihren Mietern entgegen und es könnten auch Sie dasselbe tun, zumal wir mit großen Unkosten den Laden erst zu einem sauberen Lebensmittelgeschäft hergerichtet haben. – Dies hat heute ein Mieter auch nicht mehr nötig.“
So steht es in der Akte im Hessischen Staatsarchiv, die im Zuge der Entschädigungsforderung von Fritz Halberg in den 50er Jahren angelegt wurde – er hatte sie von Amerika aus über einen deutschen Anwalt gestellt. Aus ihr geht auch hervor, dass das Haus zwangsversteigert wurde. Das Frankfurter Adressbuch verzeichnet ab 1936 die Versicherungsgesellschaft Berliner Leben als Eigentümerin. Diese konnte allerdings nach dem Krieg keinerlei Angaben über die Umstände des Erwerbs machen, denn „bedauerlicherweise waren alle Unterlagen in den Kriegswirren verbrannt“. Konstatiert wurde nur, dass das Haus wegen der umfassenden Hypothekenbelastungen sowieso nicht mehr Isak Halberg gehörte. Das Frankfurter Adressbuch verzeichnet ihn allerdings für die Jahre 1934 und 1935 noch als Eigentümer.

Die Etappen der Flucht: Barcelona, Marseille, USA

In Barcelona gerieten die Halbergs 1936 in die Zerstörungen und politische Gewalt des spanischen Bürgerkriegs, der in Katalonien besonders heftig tobte. Tilly beschreibt im oben erwähnten Interview die enormen Zerstörungen. Sie flohen für kurze Zeit aufs Land, aber es war klar: Auch in Spanien konnten sie nicht bleiben. Inzwischen war Henry, der kleine Sohn von Tilly und Eli, geboren. Die beiden Männer, Eli und Fritz flogen mit einer kleinen Maschine nach Paris, um nach einer neuen sicheren Bleibe für die Familie in Frankreich zu schauen. Kurz danach sollten die Eltern und Tilly mit dem Baby nachkommen. Die Frauen wollten noch das Geschäft, das Isaak inzwischen in Barcelona eröffnet hatte, abwickeln. Dann musste alles ganz schnell gehen. Hals über Kopf verließen sie Barcelona und waren schon am Flugplatz, doch der Flug verzögerte sich bis in die Nachtstunden. Angesichts der Kriegshandlungen, bei denen häufig Flugzeuge über den Pyrenäen abgeschossen wurden, entschloss sich die kleine Gruppe, auf den Flug zu verzichten. Mit großer Mühe erreichten sie schließlich Frankreich mit dem Zug nach Marseille. Völlig erschöpft dort angekommen ohne Geld, Gepäck und Verpflegung stürmte Tilly in das erstbeste Hotel, eine noble Adresse, und bat um Aufnahme. Doch man wies sie ab. Erst im zweiten Hotel zeigte sich der Manager bereit, Zimmer und Verpflegung bereitzustellen, so dass man einigermaßen zur Ruhe kommen konnte. Kurz darauf trafen die Männer aus Paris ein und bezahlten die Rechnung.

Zu ihrem großen Glück hatten die Halbergs Gelegenheit, 1938 mit dem Schiff Queen Mary über den Atlantik nach New York zu gelangen, wo sie sich schließlich niederließen. Fritz lernte dort Frieda, geb. Majerovicz kennen, die 1921 in Dukla (Polen) geboren war. Sie heirateten und bekamen vier Kinder: Renee, Joel, Lisa und Leslie.
Fritz nannte sich nun Fred und versuchte, sich eine neue Existenz aufzubauen, doch er war ein gebrochener Mann und kaum in der Lage, ein Geschäft zu führen oder einer Arbeit nachzugehen. Er starb 1963 in New York, Renees Mutter 1988. Großvater Isak war bereits 1944 in New York gestorben, Großmutter Ettel lebte dort bis 1958.
Mehrere Verwandte fanden eine neue Heimat in South Bend im Bundesstaat Indiana, wo auch heute noch einige Kinder und Enkel der Familie leben.

Was konnte Renee in dieser Woche finden?

Ganz wichtig: das Haus auf der Zeil Nr. 6, dann ein Grab ihres Onkels Max Halberg auf dem Friedhof in der Rat-Beil-Straße.
Die Wohnhäuser der Verwandten im ehemaligen Fischerfeld existieren nicht mehr. Wollgraben, Lange Straße, Rechneigrabenstraße, Allerheiligenstraße – es sind nur noch Adressen. Obwohl es zwei Klassenfotos ihres Vaters gibt, konnten wir bislang nicht herausfinden, an welcher Schule sie entstanden sind.

Dennoch war die Reise eindrucksvoll und wichtig, besonders das Treffen mit Schülerinnen und Schülern in der Carl-Schurz-Schule. Wieder zu Hause angekommen, schreibt Renee:

I hope that Projekt Jüdisches Leben and the City of Frankfurt am Main continue to sponsor descendants of Holocaust survivors to honor their family life in this vital city. The young people I met represent our best hope for the future.