KURZBIOGRAHIE

Ellen Leiman, geb. Adler

Ellen Leiman, geb. Adler, geb. 1927- 2017 USA
Besuchte Schule: Philanthropin
Kindertransport nach Belgien im Dezember 1938
später mit den Eltern über Großbritannien in die USA
Teilnahme am Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt 2003

Eltern:
Hugo Adler 1888 in Frankfurt am Main – 1941 USA
Flora Adler geb. Cahn, geb. 1894 in Moers – 1974 USA
Schwester:
Inge / Enid Betty Adler (verh. Simon), geb. 1923 – 2009 USA

Geschäft des Vaters:
Schmuckwarengroßhandel in der Gutleutstraße 42-44
Wohnadressen:
Reuterweg 89


Quellen:
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Algemeen Rijksarchiv
Informationen und Fotos von Lindsay Strouse
https://medium.com/@LindsayStrouse/before-she-was-bubby-stories-of-pain-resilience-reckoning-and-joy-af2743c541ca
Bericht der Gesamtschule Nordend über den Besuch von Ellen Leiman 2003
Hans Riebsamen: Erst den Enkeln erzählte sie ihre Geschichte, FAZ

Fotos:
Familie Leiman, Brigitte Hofacker und Angelika Rieber

Text und Recherchen:
Angelika Rieber

Ellen Leiman, geb. Adler

„Sie ist ein liebenswürdiges Kind“

Von Angelika Rieber

Das Novemberpogrom 1938 machte den jüdischen Bewohnern Deutschlands deutlich, dass ein Weiterleben in ihrer Heimat nicht mehr möglich war. Auch im Ausland waren viele erschüttert von den Ausschreitungen im November 1938. In verschiedenen Ländern gab es Bemühungen von Einzelpersonen, Hilfsorganisationen und von staatlichen Einrichtungen, wenigstens die Kinder in Sicherheit zu bringen und ihnen die Fortsetzung ihrer Schulbildung zu ermöglichen. Neben dem englischen Parlament ermöglichte das belgische Justizministerium keine zwei Wochen nach den Ausschreitungen vom 9./10. November 1938 die Einreise von zunächst 250 Kindern und im Januar 1939 von insgesamt 750 Kindern. Zu ihnen gehörte die 11-jährige Ellen Adler, die am 20. Dezember 1938 mit einem Kindertransport nach Belgien Deutschland verlassen konnte.

Ellen Adler, 1927 geboren, lebte mit den Eltern Hugo und Flora Adler und der vier Jahre älteren Schwester Inge im Reuterweg in Frankfurt. Das Mädchen besuchte seit 1934 das Philanthropin, die liberale jüdische Schule in der Hebelstraße in Frankfurt, bis die Schule am 10. November 1938 aufgrund der Ereignisse während der „Kristallnacht“ vorübergehend geschlossen werden musste.

„Sie ist ein liebenswürdiges Kind. Im Unterricht hat sie Eifer und Lebhaftigkeit gezeigt“, bestätigte ihr Tilly Epstein in Vertretung des Schulleiters und Dr. Sternberger als Klassenlehrerin in ihrem Abgangszeugnis.

Ellens Vater Hugo Adler war Geschäftsmann. Er hatte einen Schmuckwarengroßhandel in der Gutleutstraße 42-44, in der Nähe des Wiesenhüttenplatzes, mit geschäftlichen Beziehungen in ganz Europa: „M. Adler senior, Moderne Bijouterie“.

Die Geschäfte liefen gut, die Familie konnte sich einen Chauffeur und weiteres Personal leisten. Ellen erzählte ihren Enkelinnen gerne voller Stolz die Geschichte eines Ausflugs ins Grüne. Ein Chauffeur fuhr sie aufs Land, ein Dienstmädchen breitete eine feine Leinentischdecke im Gras aus und der Butler servierte das Abendessen.

Hugo Adler konnte sich nicht vorstellen, dass ihm in Deutschland etwas zustoßen könnte. „Hier in Frankfurt kann das nicht passieren!“, dieser Satz hatte sich Ellen Adler eingeprägt.

Häufig war Hugo Adler auf Dienstreisen im In- und Ausland unterwegs. Anfang November 1938 musste sich der Kaufmann dem wachsenden Arisierungsdruck beugen. Sein Betrieb wurde zwangsarisiert. Hugo Adler übergab das Geschäft seinem Partner.

Seine Tochter Inge hatte im Oktober das Philanthropin verlassen, „um einen praktischen Beruf zu erlernen“. Da die Ausbildungsmöglichkeiten jüdischer Jugendlicher beginnend mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25.4.1933 immer weiter eingeschränkt wurden, waren handwerkliche und kaufmännische Berufe vor dem Novemberpogrom nicht nur die einzig mögliche Perspektive in Deutschland, sondern sollten auch die Einwanderung in andere Länder erleichtern.

Nur wenige Tage nach der zwangsweisen Aufgabe seines Betriebs, wurde Hugo Adler am 10. November 1938 um 7.30 Uhr von drei Männern aus der Wohnung abgeholt und als „Aktionsjude“ nach Buchenwald gebracht, „ohne irgendeine Beschuldigung, nur weil er Jude war“, so seine Ehefrau Flora später in einem Brief. Drei Wochen nach seiner Verhaftung wurde er wieder aus dem Lager entlassen, als gebrochener Mensch. „Seine Augen waren geschwollen und blutunterlaufen, seine Kleidung verschimmelt.“ Eine Bekannte traf ihn zufällig bei seiner Ankunft am Hauptbahnhof in Frankfurt und verständigte Flora Adler, die ihn dort abholte. Sie erkannte ihn kaum wieder und war nun mit den Folgen der Traumatisierung ihres Mannes konfrontiert.

„Wenn es schellte, zitterte und weinte er, weil er dachte, die Gestapo würde ihn wieder holen“, so seine Ehefrau später. Er hatte „Weinkrämpfe und keinen Lebensmut mehr“.

Eilig bereitete das Ehepaar nun die Auswanderung vor. Sie packten alles Notwendige für den Lift und zogen vorübergehend in eine Pension. Ihr Hausbesitzer hatte sie zuvor gezwungen, die Wohnung zu kündigen. Um die Auswanderungskosten, zu denen auch die „Reichsfluchtsteuer“ und andere Zwangsabgaben zählten, begleichen zu können, musste der Kaufmann seine Versicherungen kündigen.

Eigentlich hatten sie eine gemeinsame Auswanderung nach Südafrika geplant, wo Hugo Adlers Schwester bereits lebte. Dies gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet. Hugo Adler war so traumatisiert von der Lagerhaft und verängstigt, dass er Anfang Februar 1939 zunächst allein nach England ging. Seine Frau Flora und die Tochter Inge folgten wenige Monate später.

Die Familie bricht auseinander

Kurz nach der Entlassung ihres Vaters entschlossen sich die Eltern, ihre elfjährige Tochter Ellen mit einem der ersten Kindertransporte in Sicherheit zu bringen. Am 20. Dezember 1938 konnte das Mädchen nach Belgien fliehen. Lindsay Strouse, Enkelin von Ellen Adler, zeigt ein Foto ihrer Großmutter mit einem Akkordeon. Ellen nahm ihr Akkordeon mit nach Belgien und spielte für die Kinder im Zug, erzählt Lindsay.

Zunächst kam Ellen zu Verwandten in Brüssel, zu der Schwester von Flora Adler. Zwei Monate lang, so die Enkelin, lebte sie dann in einem Kinderheim in Antwerpen, später bei einem kinderlosen Ehepaar, das das Mädchen adoptieren wollte. In der Zwischenzeit kontaktierten Hugo und Flora Adler den Schwager in Belgien. Auf dem Weg nach England besuchten Flora und Inge Adler die Tochter bzw. Schwester. Laut Mitteilung des Kinderhilfswerks konnte Ellen im Juli 1939 zu ihren Eltern nach England ausreisen.

Die Zeit in England war für alle Mitglieder der Familie schwer. Hugo Adler konnte nicht arbeiten. Die Familie war von der Unterstützung von Angehörigen abhängig. Der Blitzkrieg zwang sie zu ihrer Evakuierung aufs Land. Zwischenzeitlich war Hugo Adler zudem als Enemy Alien auf der Isle of Man interniert worden. Am 1. September 1940 gelang es der Familie, endlich in die USA ausreisen. Der Container, den sie für ihr Leben in der neuen Heimat vorbereitet hatten, kam nie an. Ihre gesamte Habe wurde versteigert. Am 6. Januar 1943 informierte das Versteigerungshaus die Verwertungsstelle des Finanzamts darüber, dass das Umzugsgut der Familie Adler inzwischen versteigert worden war.

Hugo Adlers Gesundheit war durch die Lagerhaft und die Lebensbedingungen in England so angegriffen, dass er bereits ein Jahr später starb. „Mein Mann, der als Freiwilliger 1914 für Deutschland kämpfte, zog sich durch all die Erniedrigungen eine Angina Pectoris zu, der er am 13. August 1941 erlag“, im Alter von nur 53 Jahren.

Belgien wird besetzt

Durch die Flucht der Eltern nach Großbritannien hatte Ellen Adler wenigstens ihr Leben retten können, denn mit der Besetzung Belgiens durch die deutsche Armee im Mai 1940 war das Leben der dorthin geflüchteten Kinder erneut bedroht. Einigen dieser Kinder gelang noch die Flucht nach Großbritannien, anderen gelang es über Frankreich zu entkommen, wenige überlebten im Versteck, zahlreiche Kinder wurden deportiert und ermordet.

Ellen Adlers Tante Charlotte Meyer und ihre 1937 geborene Cousine Renée Louise konnten nicht mehr rechtzeitig das Land verlassen. Sie wurden 1943 deportiert und in Auschwitz ermordet, während ihr Onkel überlebte.

Ellen Adler konnte ihre Ausbildung in den Vereinigten Staaten fortsetzen und wurde Krankenschwester, ebenso wie ihre Schwester Inge.

Trotz der traumatisierenden Erfahrungen war Ellen Adler für ihre positive und humorvolle Haltung bekannt. Ihre Klassenkameraden in New Jersey würdigten sie, dass sie sie wegen ihrer „Keep Smiling-Art und ihres fröhlichen Wesens in Erinnerung behalten würden. Ihre Gutmütigkeit und ihre großzügige Einstellung haben sie zu einem der Mädchen gemacht, das South Side nie vergessen wird, und wo immer sie hingeht, wird die Freude, die sie umgibt, jeden dunklen Pfad erhellen.“ Und genauso haben die Enkelinnen ihre Großmutter in Erinnerung.

2003 kehrte Ellen Leiman als Teilnehmerin des Besuchsprogramms der Stadt Frankfurt in ihre Geburtsstadt zurück und sprach dort mit Jugendlichen in der IGS Nordend. Die Jugendlichen fragten sie unter anderem, wie sie zum Irak-Krieg stehe. „Der Krieg ist keine Antwort“, antwortete sie.

Lange hatte Ellen Adler geschwiegen. „Wir sprachen nicht allzu viel Deutsch miteinander, abgesehen von dem einen oder anderen Kartenspiel und einem lustigen Satz aus der Jugend meiner Großmutter“, erinnert sich ihre Enkelin Lindsay. Ihren Kindern hat Ellen Leiman nichts erzählt. Sie wollte Amerikanerin sein. Erst ihren Enkelkindern gegenüber hat sie sich geöffnet. „It takes time to heal. Je suis American!”, erklärte sie in einem Interview. Der Besuch in Frankfurt spielte wohl eine wichtige Rolle dabei, sich ihren Enkelinnen gegenüber zu öffnen. “Vielleicht war es die Erfahrung, die sie bei ihrer Rückkehr nach Deutschland gemacht hat, dass sie in der Lage war, uns ihre Werte und Wünsche für die Welt offener mitzuteilen“, so Lindsay Strouse.

Ihre Enkelin Lindsay Strouse trat 2019 in die Fußstapfen ihrer Großmutter und begab sich auf Spurensuche in Frankfurt, um die Orte aufzusuchen, die für ihre Vorfahren Bedeutung hatten, das Haus, das Geschäft ihres Großvaters, die Schule.

Drei Jahre später folgte ihre Schwester Jaime, Besonders beeindruckt hat sie das 2021 eingeweihte Waisenkarussell, das an die rettenden Kindertransporte erinnert.

„Warum wir ihre Geschichte erzählen“, überschreibt Lindsay Strouse den ersten Abschnitt ihres Artikels über ihre Großmutter „Bubby“. Die (Über)Lebensgeschichte ihrer Großmutter zeigt ihr, wie wichtig es ist, mit mehr Mitgefühl und Verständnis zu handeln. „Jetzt beginnt das nächste Kapitel von Bubbys Geschichte – möge es die nächste Generation weiterhin dazu inspirieren, andere in Not zu unterstützen, diejenigen, die allein mit einem Akkordeon in einem Zug sitzen und nur auf das Beste hoffen.“